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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Unterschätzter Klassiker von Gianfranco Mingozzi

Stichwörter: 1970er Bolkan Drama Higgins Historienfilm Italien Jubiläum Klassiker Mingozzi Piovani Spielfilm

Flavia, la monaca musulmana (1974)

"Castigata, die Gezüchtigte", "Nonnen bis auf's Blut gequält", "Flavia - Leidensweg einer Nonne" – deutsche Titel wie diese erwecken einen gänzlich falschen Eindruck davon, was Gianfranco Mingozzi da eigentlich vor 50 Jahren abgeliefert hat: Das am 12. Juni 1974 uraufgeführte Historiendrama kann zwar wie so viele europäische Autorenfilme jener Zeit zum boomenden Skandalfilm-Sektor gezählt werden, ist jedoch in der Exploitation-Schublade völlig falsch aufgehoben, ganz egal, ob man selbige nun mit Sexploitation oder Nunploitation beschriftet oder ein Schielen auf Inspirationsquellen wie "The Devils" (1971) vorwirft. Ganz davon abgesehen, dass "Flavia, la monaca musulmana" formal hochwertig daherkommt – vom erfahrenen Routinier Ruggero Mastroianni montiert und musikalisch untermalt von Nicola Piovani, dem Stammkomponisten des späten Fellini, an dessen Seite Mingozzi widerum bei "La dolce vita" (1960) als Regieassistent gewirkt hatte –, greift Mingozzi hier auch inhaltlich zwei rundum seriöse Themen auf. Das erste, den Tarantismus, hatte er schon in dem kurzen Dokumentarfilm "La Taranta" (1962) beackert: ein aus ethnologischer wie sozialpsychologischer Sicht spannendes, erst in den 50er Jahren ernstlich untersuchtes Phänomen einer exzessiven Tanzwut in der Region um Apulien, mit der verdrängten Triebe und unterdrückten Lüste begegnet wurde, deren Entstehung man auf vermeintliche Tarantelbissen projizierte. Religiöse Gewissensfragen und sexuelles Verlangen kommen in diesem Motiv zusammen – und im Rahmen des Spielfilms, dem sich Mingozzi ab "Sequestro di persona" (1968) erfolgreich gewidmet hatte, führte er selbiges mit der noch jungen Frauenbewegung zusammen, die verstärkt patriarchale Musters ins Bewusstsein zu rücken begann. Bezugspunkt der Handlung ist zudem der Otranto-Feldzug im 15. Jahrhundert: die Eroberung Otrantos durch die Osmanen samt späterer Befreiung. Mit Otranto rückt unweigerlich auch die erste gothic novel "The Castle of Otranto" (1764) ins Bewusstsein, was gemeinsam mit einigen Szenen sexualisierter Leibesstrafen innerhalb des Films seiner Einordnung als Horrorfilm zuträglich gewesen sein könnte. Tatsächlich geht es jedoch um die Emanzipationsbestrebungen einer selbstbewussten Nonne, von Florina Bolkan souverän verkörpert, die ihrer Unterdrückung durch eine christlich-patriarchalische Ordnung mit Rebellion begegnen wird: Sie schließt sich – bedingt auch durch Kindheitserlebnisse – den Osmanen an, begegnet aber auch dort an der Seite eines souveränen Partners (Anthony Higgins) einem vergleichbaren Muster... Bemerkenswert ist, dass der tragisch endende 70er-Jahre-Skandalfilm mit seinen Bezügen zu Feminismus, sexueller Revolution und Tarantismus sowie mit symbolischen Anleihen bei skandalträchtig-körperlichen Happenings einerseits als Stückchen Zeitgeschichte überzeugt, andererseits heutzutage so aktuell wie nie zuvor erscheint, wenn – wie es vor allem Rolf Pohl in der letzten Dekade immer wieder attestierte – die Neuen Rechten, die für den Feminismus wenig übrig haben, die eigenen Formen des unterdrückens so lustvoll wie neiderfüllt auf den islamischen Fremden projizieren.
Beim Label X-Rated, das sich im Laufe der Jahre doch hinsichtlich seiner Ambitionen merklich erweitert hat, ist der Klassiker vor zehn Jahren (und eine knappe Dekade nach der DVD-Veröffentlichung des Labels) gut ausgestattet auf Blu-ray herausgekommen: Fassungseintrag von Flows


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