Cinétracts (1968)
Das unbewegliche Foto einer jungen Frau mit zugekniffenen Augen und zugehaltenen Ohren im Hintergrund. Der schmollende Gesichtsausdruck scheint mit der Verweigerung des Sehens & Hörens Ignoranz auszudrücken. Ein Filzstift hat den Namen der Tageszeitschrift FIGARO auf ihren Pulli geschrieben. Im Vordergrund brennt eine Zündschnur, in deren grellen Funkenregen die vier Zeilen "Révolution [] Cul turelle [] Sex uelle [] Prolétarienne" hineingeschrieben worden sind. Aus derartig beschrifteten Fotos und Foto-Collagen setzen sich so einige der "Cinétracts" zusammen, die ungefähr zwischen Februar und Juni 1968 entstanden sein dürften. Von jenem Februar, in welchem Truffaut, Godard und andere Filmschaffende mit rund 3000 Cinephilen unter den Augen des Weltkinos und der Tageszeitungen im Rahmen der Absetzungs-Affäre um den Cinémathèque française-Leiter Henri Langlois auf der Straße mit der Polizei aneinandergerieten, bis zu jenem Juni, in dem sich die teilweise fast schon bürgerkriegsartigen Ausschreitungen des Mai '68 endgültig legten, welche mit der Besetzung der Sorbonne am 3. Mai 1968 ihren Anfang genommen hatten...
Wie schon im Fall von "Loin du Vietnam" (1967) und den Filmen aus dem Rhodiacéta-Umfeld war Marker auch bei den "Cinétracts" die treibende Kraft: agitatorische & polemische filmische Flugblätter, mindestens 41, vermutlich rund 200 Stück, die man in teils unterschiedlichen Zusammenstellungen zeigte. Das oben beschriebene Bild dürfte aber mit allergrößter Wahrscheinlichkeit von Godard stammen: Man kennt diese beschrifteten Foto-Collagen aus seinen Filmen der Groupe Dziga Vertov-Phase. Godards Beiträge lassen sich somit mit einiger Wahrscheinlichkeit relativ verlässlich identifizieren, wohingegen Chris Marker, Alain Resnais, Jean-Denis Bonan, Gérard Fromanger, Philippe Garrel, Jean-Pierre Gorin, Jacques Loiseleux und Jackie Raynal weit eher in der bewusst angestrebten Anonymität verschwinden.
Die "Cinétracts" sind allerdings keine reinen Fotofilme, wie man sie von Initiator Chris Marker kennt: Bisweilen ballt sich durchaus auch einmal in fließenden Bewegungen - ganz filmgemäß - eine Faust in Großaufnahme vor schwarzem Hintergrund zwischen all den agitatorischen, polemischen Slogans. Dazwischen befinden sich Karikaturen und Wortspiele (à la rêve/grève) als Kreidezeichnungen an schwarzer Tafel. Es überwiegen aber deutlich die unbewegten oder in leichten Fahrten eingefangenen Fotos: Fotos aus dem Pariser Mai, aus Kuba, exotische Werbeprospekte, Buchcover - manchmal kommentiert, manchmal unkommentiert; zumeist Found Footage. Beliebte Motive: Stramm stehende Uniformierte, ohnmächtige, blutende Demonstranten. Einer der ersten cinétracts zeigt die Hundertschaften von Parisern, die jeweils ein großes Plakat mit Gilles Tautins Antlitz mit sich tragen, der als 17jähriger Gymnasiast im Rahmen einer Konfrontation zwischen Demonstranten und Polizisten unter letztlich ungeklärten Umständen ertrank.
Diese Bilder – und die linken Parolen und ikonischen Aufnahmen von Che und Mao - lassen sich leicht einordnen. Ebenso die mit Hakenkreuzen - und godardtypisch mit SS-Schriftzügen à la "aSSuré" - verzierten Feindbilder. Aber wem sagen heute Jürgen Kuczynski, Hans Freudenthal oder Marc Lanvin auf Anhieb etwas? Es ist nicht zu leugnen, dass die "Cinétracts" ohne Hilfestellungen zu großen Teilen schwer verständlich bis unverständlich bleiben. Dass Godard seine philosophischen Bonmots einstreut oder auch schonmal die Sexualorgane mit Marx, Hirn & Augen hingegen mit Freud in einen Zusammenhang bringt, ist dem besseren Verständnis auch nicht gerade zuträglich... zumal Wortspiele und Montage so manchen cinétract ausgesprochen mehrdeutig geraten lassen. Deswegen - und auch weil keine offizielle, definitive Zusammenstellung der Kurzfilme erhältlich ist - kann man unmöglich die "Cinétracts" in einem Rutsch schauen: Ein wiederholtes Betrachten kleinerer "Cinétracts"-Auswahlen, samt begleitender historischer oder medientheoretischer Essays ist da der empfehlenswertere Weg.
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