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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Ein Klassiker des strukturellen Experimentalfilms

Stichwörter: 1970er Experimentalfilm Frampton Jubiläum Klassiker Metafilm USA Wieland

Zorns Lemma (1970)

Die Linguistik und Semiotik – insbesondere die eines Ferdinand de Saussure – wurden infolge einer zunehmenden Ausformung der filmwissenschaftlichen Forschung inmitten der 60er Jahre auch von einigen Filmtheoretikern und -wissenschaftlern übernommen, um in Analogie zur Sprache eine Filmsprache anzunehmen, die sich aus einem Zeichensystem, aus Grundelementen, Codes und Ordnungen ergibt. Solche (zumeist eher poststrukturalistischen) Ansätze führen von der Filmtheorie eines Christian Metz über Aufsätze des Filmschaffenden Pier Paolo Pasolinis bis hin zu den Kinobänden Gilles Deleuzes, in denen sich manche Bezüge auf den Strukturalismus fast schon wie eine Parodie lesen.
Auch der Experimentalfilm dachte als Metafilm zu dieser Zeit über die Sprache des Films nach und insbesondere der strukturelle Film (den ein Peter Greenaway in den 70er Jahren zunehmend in seine poststrukturalistische Parodie umformte) bemühte sich um eine durchorganisierte Untersuchung filmsprachlicher Elemente und Strukturen. Der Klassiker schlechthin auf diesem Gebiet dürfte wohl Hollis Framptons "Zorns Lemma" sein, der erstmals am 12. September 1970 auf dem New York Film Festival zu sehen war. Schon hier zeigt sich im Grunde eine Zurückweisung der Annahme, mit Mitteln der Linguistik eine Filmsprache annehmen und analysieren zu können, zugleich aber lassen sich aus dem Vergleich mit der Sprache Rückschlüsse auf das Medium Film gewinnen.
"Zorns Lemma" ist in drei Blöcke unterteilt, deren erster ohne visuelle Informationen daher kommt, derweil der zweite Block auf den Ton verzichtet. Zu Beginn liest eine Frauenstimme aus einer Fibel und konfrontiert das Publikum auf diese Weise bei anhaltendem Schwarzbild mit dem Alphabet, um das sich Reime und allerlei phantasievolle Texte drehen. Diese 2, 3 Minuten enden mit dem Alphabet in weißen Lettern auf schwarzem Grund. Daran anknüpfend beginnt der zweite Block, der nun einsekündige Nah- und Großaufnahmen von Wörtern in alltäglichen konkreten Gegenden präsentiert, alphabetisch nach Anfangsbuchstaben geordnet: von "Albino" bis "Zodiac", von "Abuse" bis "Zero". Über eine gute Dreiviertelstunde erstreckt sich dieser Teil, wobei zunehmend Buchstaben gegen visuelle Leitmotive ausgetauscht werden. Anstelle des Q ist etwa nur noch die Aufnahme eines qualmenden Schornsteins zu sehen, anstelle des Z die Wellenbewegung des Meeres, vom Ufer aus betrachtet. Abschließend vermengen sich dann Bild und Ton im etwa zehnminütigen Schlussteil des Films, in dem sich ein Paar durch eine Schneelandschaft vom Vordergrund in den fernen Hintergrund begibt, derweil über dieser langen Einstellung aus Robert Grossetestes spätem hochmittelalterlichem Traktat "On Light, or the Ingression of Forms" zitiert wird: jede Sekunde ein Wort, was zwar eine klare Ordnung bewirkt, aber dadurch keinesfalls einen leichteren Zugang garantiert, sondern einen solchen vielmehr unterläuft.
Zunächst einmal rückt Framptons experimentalfilmische Mengenlehre ins Bewusstsein, dass Schrift und gesprochene Sprache bereits in eine wie auch immer aufzufassende Filmsprache eingebettet sein können – und dass der Film ebenso auf das Bild wie auf den Ton zu verzichten imstande ist. Darüber hinaus zeigt sich, dass im Film ikonische, indexikalische und symbolische Zeichen gleichermaßen Platz finden können, dass aber der Film selbst kein dem Alphabet adäquates Zeichensystem bildet. Auch impliziert Frampton, dass sich zwar Grundelemente wie Einstellungsgrößen voneinander unterscheiden lassen, dass diese aber fließend ineinander übergehen und kaum klar voneinander getrennt werden können. Zusammen mit anderen Filmen Framptons (und weiteren VertreterInnen seiner Zunft) steckt "Zorns Lemma" Grenzen des Films ab und erschafft ein Gespür für die Nuancen und das Timbre der Filmkunst: nicht mehr kategorisierbar, aber doch elementar für das Medium; ein fließendes Oszillieren zwischen möglichen Extremen. Dass hier – wie auch in Framptons "Surface Tension" (1968) oder im "Wavelength" (1967) Michael Snows, dessen Lebensgefährtin Joyce Wieland zu den Sprecherinnen von "Zorn's Lemma" zählt – die Welle zu den zentralen Motiven gehört, ist kein Zufall...
In beachtlicher Qualität liegt der Film im Rahmen der Edition A Hollis Frampton Odyssey der Criterion Collection auf Blu-ray oder auch auf DVD vor: Fassungseintrag von PierrotLeFou


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