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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Parabel des Franquismus

Stichwörter: 1970er Drama Erice Historienfilm Jubiläum Klassiker Parabel Spanien Spielfilm Zensur

El espíritu de la colmena (1973)

Die Einbildungskraft war schon immer eine Möglichkeit, den Schrecken der Realität zu entkommen. "Die Gedanken sind frei", lautet der Titel eines bekannten Volksliedes, den man von ganz links bis ganz rechts für sich nutzen kann, um es sich im Hinterköpfchen so einzurichten, wie man es in der Gesellschaft nicht, nicht mehr oder noch nicht vermag. In Lyman Frank Baums "The Wonderful Wizard of Oz" (1900) verarbeitet die junge Heldin des Romans ihre triste, graue, bleichte, monotone, weite Umgebung in Form eines fantastischen Abenteuers. In Orwells' "1984" (1949) liegt der Schrecken der Dystopie daran, dass hier nicht einmal mehr die Gedanken frei sind, sondern eine teuflische Melange aus Manipulation, Gehirnwäsche und physischer Gewalt auch die Gedanken in der gewünschten Weise zurechtzubiegen versteht. Insofern war es in Terry Gilliams "Brazil" (1985) tatsächlich ein Happy End, wenn die Hauptfigur am Schluss auf dem Folterstuhl jeden Realitätssinn verliert und sich voll und ganz in ihre Traumwelt zurückzieht. Dort, wo man besonders rigiden Einschränkungen und Repressionen ausgesetzt ist, scheint das Bedürfnis, in seinen Gedanken zu entfliehen, besonders groß zu sein. Ein Film hatte dafür die bis heute maßgebliche Form gefunden: die Baum-Verfilmung "The Wizard of Oz" (1939), die mit S/W- und Farbaufnahmen den Unterschied zwischen Realität und Innenwelt am offensichtlichsten zeigt.
Ein Film, der den spanischen Filmemacher Victor Erice in Kindesjahren nachhaltig beeindruckt hat, war allerdings ein anderer: Es war der Sherlock-Holmes-Streifen "The Scarlet Claw" (1944), dem er später seinen Essayfilm "La morte rouge" (2006) widmete. In einem anderen seiner Filme, sicherlich seinem filmischen Hauptwerk, war der Eindruck, den das Kino hinterlassen kann, bereits Thema: in seinem am 18. September 1973 uraufgeführten "El espíritu de la colmena".
"El espíritu de la colmena" fällt in eine lange Reihe spanischsprachiger Filme, die sich unter dem Einfluss des Franquismus dem Motiv der fantasievollen Verarbeitung der Eindrücke widmen. Fernando Arrabel drehte als Exil-Spanier "Viva la muerte" (1970): In dem bizarren Drama verarbeitet ein Junge seine schwierige Familiengeschichte kurz nach dem Bürgerkrieg in so befreienden wie verstörenden Gewaltfantasien. Und in Guillermo de Toros "El laberinto del fauno" (2006) erscheint die Grausamkeit der Zeit am Ende des Bürgerkrieges (nicht ganz konsequent) in märchenhafter Verkleidung in der Gedankenwelt einer 12-Jährigen. Zwei Filme indes ragen ganz besonders heraus: Carlos Sauras – noch während Francisco Francos Dahinsiechen entstandener – "Cría cuervos" (1976) und eben Erices "El espíritu de la colmena". Zwei Filme, die noch während des Franquismus aus dem Inneren Spaniens einen Kommentar auf den Franquismus abgaben – einmal auf den späten, im Sterben begriffenen; einmal auf den frühen; beide Male mit Ana Torrent in der Hauptrolle, die nicht bloß in "El espíritu de la colmena", sondern auch später in "Tesis" (1996) mit der Wirkmacht der Filmbilder Erfahrungen sammeln musste. In "El espíritu de la colmena" ist Torrent eine Siebenjährige, deren Begegnung mit einem verwundeten Kämpfer, der kein gutes Ende nehmen wird, mit Erinnerungen an ihre Sichtung von "Frankenstein" (1931) in einem kleinen Wanderkino verwischt. Aber das Mädchen bleibt nicht die einzige Figur, die hier die Realität verzerrt wahrnimmt. Auch die Erwachsenen blicken bloß auf ihre jeweiligen Steckenpferde, gefangen in einer inneren Emigration, blind für die wichtigen Fragen ihrer Gesellschaft. Erice gibt sich dabei kryptisch, um der spanischen Zensur zu umgehen – und geht doch zugleich so weit in seiner Kritik am Franquismus wie kaum ein anderer Film seiner Zeit.
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