Le manoir du diable (1896) & La fée aux choux (1896/1900/1902)
Ein Gewimmel wie in den "Insectes" (1891) Étienne-Jules Mareys; oder eine abgeschlossene Bewegungseinheit wie in Eadweard Muybridges "Sallie Gardner at a Gallop" (1878). Dergestalt präsentierten sich die frühen Bewegungsstudien, die waltendes Chaos abbildeten oder (häufiger) die Ordnung einer zuvor definierten Handlung/Bewegung (eines Griffes, eines Schrittes) festhielten. In der zweiten Version ihrer "Canards se jetant à l'eau" (1895) tendierten Charles Comte und Étienne-Jules Marey eher unfreiwillig schon in Richtung Handlungskino, treibt doch hier ein sichtbar aus dem Hintergrund heraneilender Hund als Kausalursache die Enten im Vordergrund vom Ufer durch die Luft ins Wasser. Das Schema Aktion/Reaktion trifft auf die definierte Bewegung (vom Zustand des An-Land-Seins in den Zustand des Nicht-mehr-an-Land-Seins).
Der geschauspielerte Film kannte diese Erscheinungsformen ebenfalls, tendierte mal mehr zum willkürlichen Ausschnitt eines Gewimmels (Tanzes/Kampfes), das immerhin nicht mehr das Durcheinanderkrabbeln von Insekten bot, sondern schon wie bei Robert W. Pauls "Andalusian Dance" (1896) als Performance über erkennbare Muster verfügte, zunehmend häufiger auch zur Darbietung einer erkennbaren Bewegungseinheit mit Anfang und Ende: Beim "Sioux Ghost Dance" (1894) William K.L. Dicksons und William Heises reihen sich die Tänzer vor ihrem Tanz immerhin noch für wenige Frames wie Bühnenkünstler vor dem Publikum auf, um dann auch den Beginn des Tanzes deutlich erkennen zu lassen; und in Dicksons "Blacksmith Scene" (1893) sieht man drei Schmiede ihr Handwerk beginnen, im Mittelteil eine Pause für ein erfrischendes Bier einlegen und sodann ihr Handwerk wieder aufnehmen, bis der mittlere Schmied dem Produkt die letzte Feinarbeit zukommen lässt. Hier wird die dargebotene Bewegung des (gerafften) Schmiedevorgangs schon dramaturgisch aufgelöst.
Im vermeintlichen Kino-Geburtsjahr dürfte ein "L’arroseur arrosé" (1895, Anniversary-Text) als besonders komplexe Bewegungseinheit angesehen werden, die ebenfalls dramaturgisch verläuft und als Aktions-/Reaktions-Modell ein psychologisch motiviertes präsentiert, das aus übermütigem Lausbubenstreich und rächender Bestrafung besteht. Ein Film mit Schauspielern, der schon nicht zu Unrecht als Markierung der Geburtsstunde des Spielfilms gegolten hat, aber in Anbetracht des Umstandes, dass auch in den dokumentarischen Filmen jener Zeit Statist(inn)en die Kamera registrieren und sich dann spielerisch (grüßend, lächelnd) verhalten, steht er auch den dokumentarischen Filmen seiner Zeit noch sehr nahe, könnte auch als (nach)gestellte dokumentarische Szene gelten, die einfach einen Streich samt seiner Folgen dokumentiert, als pädagogischer Lehrfilm quasi. Es dauerte noch ein knappes Jahr, bis der Spielfilm seine endgültige Ausprägung als phantastischer und somit eindeutig fiktionaler Spielfilm erhielt.
Am 24. Dezember 1896 zeigte Georges Méliès erstmals seinen "Le manoir du diable": Eine Fledermaus flattert durch einen Gang in eine Halle, verwandelt sich in einen offenbar zauberkundigen Menschen (Méliès selbst), der sogleich einen Kessel herbeihext, dann einen weiteren Helfer, der ihm assistiert, um aus dem Kessel eine Frau emporsteigen zu lassen, die er sogleich fortschickt, ehe er Gehilfen und Kessel wieder verschwinden lässt. Mit einer Art Tarnkappe lässt er sodann auch sich selbst verschwinden oder unsichtbar werden, als zwei galante Edelmänner die Szene betreten. Diese werden von allerlei Spukgestalten – Zauberer und Gehilfe in verschiedenen Hüllen – heimgesucht und geneckt, bis einer von ihnen die Flucht ergreift. Der andere bleibt, erlebt, wie eine Fledermaus unter seiner Attacke zum zauberkundigen Menschen mutiert, und wird von dessen herbeigezauberten Erscheinungen geängstigt und in die Enge getrieben. Die fortgeschickte Frau tritt wieder auf; sofort sammelt sich der Verängstigte wieder, schenkt ihr einen Handkuss, findet dann aber an ihrer Stelle eine alte Vettel vor, die sich bei seinem Angriff sogleich vervielfacht. Derweil ändert sich abrupt der Hintergrund: Statt des Ganges innerhalb des Schlosses ist nun eine Brüstung mit Ausblick ins Freie zu sehen. Über selbige Brüstung springt entsetzt der zurückgekehrte Freund, den die Vetteln sogleich verfolgen; bloß über die Brüstung wollen sie nicht so recht, wenngleich der Zauberer über selbige hinausweist, dem Gesprungenen hinterherzeigend, derweil gerade der Edelmann ihnen bei diesem selbstmörderischen Unterfangen Einhalt gebietet. Letztlich verpuffen sie und es kommt zur finalen Auseinandersetzung zwischen dem Helden und dem Zauberer (der mit mephistopheleschem Hut und Fledermausgestalt auch Teufel oder Vampir sein könnte), wobei Ersterer Letzteren mit einem gefunden und sogleich ergriffenen Kreuz in die Flucht zu schlagen versteht. Das ist – wie so oft bei Méliès – voller (Stop-)Trickeffekte, derweil die Handlung episodenreich und voller Überraschungen verläuft, dramaturgisch allerdings auch wenig geschlossen erscheint. Die Erzählung wird ausgeschmückt, bis ihr Gerüst hinter die schillernde Oberfläch weitgehend zurückgetreten ist. Derartig präsentiert sich der faszinierende, lange verschollene und erst 1988 wiederentdeckte Kurzfilm, der je nach Laufgeschwindigkeit bereits bis über drei Minuten Laufzeit aufweist und sich in einer Einstellung zu ereignen scheint, wenngleich freilich Figuren und gar Kulissen über Montage-Tricks ausgetauscht werden. In "Les Vues Cinématographiques. Causerie par Geo" (1907) hat sich Méliès recht ausgiebig darüber ausgelassen, wieviel Aufwand mit solcherlei Filmen verbunden war: Atelier und Bühne samt allen technischen Verrichtungen für Kameramänner und Akteure, Glas- und Milchglasdecken zu Beleuchtungszwecken, Bogen- und Quecksilberlampen, schwarzweiße Bühnenbilder, auf Holz gemalt, Requisiten und Kostüme gesellten sich zu Planung und Choreografie solcher Szenen, in die Schauspieler(innen) und Kameramann eingewiesen werden mussten, derweil im Anschluss an die Aufnahmen die schwierige Montage bevorstand, wobei Filmrisse und -brände die Arbeit neben allen erdenklichen übrigen Pannen noch erschwerten. Was für Laien heute primitiv wirken mag, lässt viel Mühe und Herzblut erkennen.
Aber war "Le manoir du diable" der erste Films einer Art? Als diesbezügliches Konkurrenzprodukt gilt gemeinhin "La fée aux choux" von Alice Guy. Wobei hier – wie zum Beispiel bei den unterschiedlichen Versionen aus unterschiedlichen Jahren von "L’arroseur arrosé" (1895/1896/1896), "La sortie de l'usine" (1895/1896/1896/1897) oder "L’arrivée d’un train à La Ciotat (1896/1896/1897) – allerlei Verwechslung vorherrscht: Der Film, den die Bilder des IMDb-Eintrags der 1896er-Fassung zeigen, ist tatsächlich die 1900er-Version des Stoffes, die unter gleichem Titel, teils auch mit dem Titelzusatz "ou la naissance des enfants" kursiert. Diese zweite Version wird oftmals verwechselt mit der dritten Version, die – wie so oft: nachträglich – den Titel "Sage-femme de première classe" (1902) erhielt. Diese dritte Version, die teilwweise irrtümlich auf das Jahr 1896 datiert wird, zeigt vierminütig und in zwei Einstellungen ein scheinbar frisch vermähltes Paar (mit Alice Guy in einer Hosenrolle), das vor einem Stand steht, an dem Babys angepriesen werden. Eine Einstellung später befinden sie sich im Innenhof der Verkäuferin, die Babys quasi aus großen Kohlköpfen erntet. Hier erwirbt das junge Paar das Wunschkind. Die bekanntere zweite Version gibt sich da entschlackter: In einminütiger Einstellung tänzelt eine Fee durch ihren Kohlkopfgarten, um Babys zu ernten und dem Publikum darzubieten. Kopfgeburten quasi, was zumindest im deutschsprachigen Raum erlaubt, in dem Geschehen eine Metapher für den voll fiktionalen Charakter der Szene zu sehen. Die erste Version indes soll aus dem Jahr 1896 stammen und ebenfalls eine knappe Minute Laufzeit aufgewiesen haben: Gedreht habe Guy den Film – je nach Quelle – zwischen Ende 1895 und April 1896; erste Aufführungen werden teilsweise im März 1896 angesiedelt... oder eben später im Jahr 1896. Indes: Diese erste Version des Films ist verschollen. Sie soll zwar wie die dritte Version ein junges Paar dargeboten haben, dass sich letztlich geerntete Babys aushändigen lässt – en detail überprüfen lässt sich das indes nicht. Indizen sprechen zwar dafür, dass die durchaus verbreitete These, es habe gar keinen 1896er-Film "La fée aux choux" gegeben, wenig wahrscheinlich erscheint; und es gibt duchaus Gründe zur Annahme, dass diese erste Version Elemente der dritten Version aufweist. Eine Einschätzung der Komplexität und des Stellenwertes dieses verschollenen Films kann aber nicht abschließend gegeben werden. Fest steht immerhin: Schon Guys 1896er-Version hatte einen rein fiktiven Stoff zum Thema – allerdings keine Trickeffekte zu bieten. Und wahrscheinlich dürfte diese Version auch vor Méliès' frühem Klassiker erschienen sein.
Die zweite und dritte Version von Guys verschollenem Pionierwerk liegen bei KINO International in der Edition Gaumont Treasures 1897-1913 auf DVD vor (Fassungseintrag von Platzhalter-Account).
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