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von ratz

Vor 50 Jahren: Philosophische Science-Fiction aus Osteuropa

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Solaris (1972)

Für den Kulturbetrieb der westlichen Welt war während des Kalten Krieges die Kunst jenseits des Eisernen Vorhangs nur von marginalem Interesse, sie stand unter dem berechtigten Verdacht, ideologisch voreingenommen zu sein. Um so erstaunter wurden die Filme Andrei Tarkowskis aufgenommen, eines jungen russischen Regisseurs, dessen erster Langfilm „Iwanowo detstwo“ („Iwans Kindheit“) 1962 mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet wurde: hier wurden, völlig unpolitisch und abseits der sowjetischen Kriegsfilm-Tradition, die traumatischen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf ein Kind auf äußerst sensible und humanistische Art behandelt. Auch Tarkowskis zweiter Film, die monumentale Künstlerbiographie „Andrei Rubljow“ (1966) wurde international mit Preisen bedacht, darin etablierte der Autor und Regisseur die für ihn typische Handschrift der langsamen Erzählung, der langen Kameraeinstellungen und der introspektiv-grüblerischen Sujets. Als schließlich am 5. Februar 1972 Tarkowskis „Solaris“ in Moskau Premiere feierte und anschließend auf europäischen und US-amerikanischen Festivals lief, bedeutete der Wechsel vom Historien- zum Science-Fiction-Genre keine Änderung für Tarkowskis Stil, sondern eine Vertiefung.

„Solaris“ beruht auf der Romanvorlage des vielseitigen polnischen Autoren Stanislaw Lem, der für seine Romane und Aufsätze bereits weltbekannt war. Lem wollte nie als Sci-Fi-Autor wahrgenommen werden, doch tatsächlich beschäftigen sich viele seiner Schriften mit Technologien der Zukunft und erörtern scharfsinnig und teils satirisch die Probleme, die sie mit sich bringen werden. Auch der Roman „Solaris“ handelt vom Fehlschlagen der Kommunikation der Menschen mit einem fernen Ozean-Planeten, der ein einziges, großes Bewußtsein hat. Tarkowski und sein Co-Autor Friedrich Gorenstein bleiben dem Stoff im Wesentlichen treu: Auf der ihn umkreisenden Raumstation liest Solaris die Erinnerung der Astronauten und läßt für sie lebensechte „Kopien“ von Menschen erscheinen, die ihnen viel bedeuten oder bedeutet haben – so auch für den Psychologen Kris Kelvin (Donatas Banionis), der sich mit seiner wiederauferstandenen Ehefrau Harey (Natalia Bondartschuk) konfrontiert sieht, die vor zehn Jahren Suizid begangen hatte. Für die technologischen Aspekte (und den damit häufig vorherrschenden Aspekt von Science Fiction) interessiert sich Tarkowski jedoch kaum, er rückt das emotional komplexe Verhältnis von Kelvin und Harey in den Vordergrund. Abweichend von der Vorlage etabliert Tarkowski daher eine ausgedehnte Exposition auf der Erde, die Kelvins Charakter und seine Familie einführt und mit einem idyllisch an einem Weiher gelegenen Haus einen Gegenort zum Ozeanplaneten etabliert. Wie auch in seinem späteren "Stalker" (1979) dient das utopische bzw. dystopische Setting Tarkowski für eine meditative Reise der Protagonisten in sich selbst, ihr Hadern mit inneren Konflikten, den Geliebten und der Vergangenheit sowie für die Suche nach dem Sinn der Existenz oder auch nach Gott.

Vor allem die späteren der nur sieben Langfilme Tarkowskis sind genuines Autorenkino und erschaffen faszinierende, ganz persönliche Reflektionen mit einzigartiger Ästhetik. „Solaris“ ist davon das vielleicht am ehesten zugängliche Werk und kann als Einstieg in das Werk des Regisseurs dienen. Die deutschen DVD-Ausgaben des Films sind allerdings nicht zu empfehlen, sie liegen alle im falschen, nicht anamorphen Bildformat vor. Mosfilm stellt den Film jedoch als freien, deutsch untertitelten HD-Stream auf Youtube zur Verfügung, physische Alternativen bieten die Blu-ray der Schweizer Trigon-Film (Fassungseintrag) und das englischsprachige Ausland. Von den aktuell vier lesenswerten OFDb-Kritiken sei die jüngste von whgreiner empfohlen.


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