Teorema (1968)
"Teorema" hieß 1968 Pasolinis kurzer Roman, der hierzulande den Untertitel "Oder Die nackten Füße" trug. Gleichzeitig arbeitete Pasolini bereits an einer – am 5. September 1968 uraufgeführten – Filmversion des Stoffes, die einerseits als Kritik an der großbürgerlichen Familie jede Menge Zeitgeist atmet, andererseits in ihrer religiös-mystischen Ausrichtung doch ein Fremdkörper in der Filmlandschaft jener Zeit blieb.
Inmitten seiner mythisch-archaischen Werke "Edipo re" (1967) und "Medea" (1969) ist "Teorema" entstanden und mutet trotz der deutlichen Verortung in der '68er-Gegenwart ähnlich zeitlos an: Ein frohlockender Bote, Pasolinis Liebling Ninetto Davoli, der hier bezeichnenderweiser Angelo (!) heißt, verkündet die Ankunft des Gastes. Terence Stamp, mit seinen leuchtenden blauen Augen und dem blonden Haar, dringt in die großbürgerliche Familie ein, zeigt sich dem Vater, der Mutter, dem Sohn, der Tochter und der Hausmagd gegenüber gleichermaßen offen(herzig) und verständnisvoll, verkehrt mit allen sexuell und wird schließlich wieder vom Boten Angelo abberufen. Die Verlassenen hadern daraufhin mit ihrer bisherigen Existenz. Die Begegnung mit dem gütigen Fremden, die jeweils im Sexualakt gipfelte, hat ihnen eine Erfahrung beschert, die sie nun zu kompensieren oder zu wiederholen gedenken: Die Mutter schläft mit diversen Männern, ohne wirklich Erfüllung zu finden, der Sohn strebt mit abstrakter Kunst dem Absoluten entgegen und kommt zu keinem Erfolg, die Tochter fällt der extremen Trauer anheim, befindet sich in einem Zustand der Katalepsie und wird eingeliefert, der Vater verschenkt seine Fabrik, entkleidet sich am Hauptbahnhof und zieht in die Wüste aus, die Hausmagd lässt sich vor einem Bauernhof nieder, ernährt sich asketisch von Brennesseln, heilt Kranke, levitiert und lässt sich lebending begraben, derweil aus ihren Tränen eine Quelle entsteht.
Die krank- & wahnhafte Trauer, die emotionslos-monotone Wiederholung des sexuellen Aktes mit anderen, die abstrakte Kunst, eine etwas hilflose Sühne und eine Askese, die mehr und mehr den Eindruck der Leblosigkeit erweckt, werden als Irrwege oder zumindest als unbefriedigende Wege dargeboten, dasjenige zurück ins eigene Leben zu holen, was in der ekstatischen Intimität mit dem göttlichen Gast erfahren worden ist. Dieser hingegen erscheint – wie der Bote Angelo – als Vorbild: Die Gleichbehandlung von Männern und Frauen, Jungen und Alten, Wohlhabenden und Armen, die Kunst, sich sofort an fremden Orten heimisch fühlen zu können – darin ist eine Vorbildfunktion zu sehen, wenngleich der vom attraktiven Terence Stamp verkörperte, fremde Gast als göttlich ausgewiesen wird. Aber auch als göttliche Figur weist er eine durchaus nachvollziehbare, d.h. nachahmbare Haltung auf, welche einen automatisch heiligt. Stamp ist dabei die perfekte Besetzung für diese faszinierende Figur. Und überhaupt ist die Besetzung beachtlich, denn neben Stamp und Pasolinis Stamm-Schauspieler Davoli sind auch die große Silvana Mangano, Massimo Girotti und Laura Betti sowie Godards Muse Anne Wiazemsky zu bewundern. Nicht zum ersten Mal setzte sich Pasolini mit dem rätselhaften, für viele Interpretationen offenen Thesenfilm zwischen die Stühle: von Katholiken gepriesen und kurz darauf auch verdammt, im Kino wegen Obszönität zum Zensurfall geraten.
Erhältlich ist das Werk mit deutscher, etwas unsauberer Tonspur auf DVD bei CMV (Fassungseintrag von Andy-O) und englisch untertitelt und reichhaltig mit Extras ausgestattet als BluRay beim BFI (Fassungseintrag von lottner215).
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