Les lèvres rouges (1971) & La plus longue nuit du diable (1971)
Belgien gehört mit seinen nicht einmal 31.000 km² zu den kleineren Staaten Europas. Aber nicht bloß wegen des Hauptsitzes der EU in Brüssel ist Belgien dennoch ganz vorne mit dabei: Mit Renaissance-Komponisten, frankobelgischen Comics, Künstlern wie den belgischen Symbolisten und Literaten wie den Vertretern eines Magischen Realismus ist Belgien fest in Hoch- und Populärkultur verankert. Insbesondere Phantastik-Liebhaber können bzw. müssen Belgien zu den ergiebigsten europäischen Staaten zählen – und die morbid-dekadenten Bildwelten der Symbolisten sowie die Literaten einer Flämischen Phantastik sind Ende der 60er Jahre auch in den belgischen Film hinübergeschwappt, vom Animationskurzfilm eines Raoul Servais bis hin zur TV-Miniserie eines Harry Kümel. Zur Flämischen Phantastik gehörten vor allem die belgischen Vertreter des Magischen Realismus: Johan Daisne und Hubert Lampo, deren jeweiligen Klassiker – Daisnes "De trein der traagheid" (1948/1950), Lampos "De komst van Joachim Stiller" (1960) – späterhin beide erfolgreich verfilmt worden waren. Der belgische Filmemacher André Delvaux lieferte als zweite seiner Daisne-Verfilmungen "Un soir, un train" (1968) als belgisch-französische Koproduktion ab, Harry Kümel lieferte später den umfangreichen "De komst van Joachim Stiller" (1976). Zwischen beiden Filmen wären die Anfänge dessen anzusiedeln, was später gelegentlich als Flemish Horror Cinema – etwa in Steve De Roovers Dokumentarfilm "Forgotten Scares: An In-depth Look at Flemish Horror Cinema" (2016) – oder als Walloon Horror Cinema – etwa in Steve De Roovers "Surrealistic Nightmares: An In-depth Look at Walloon Horror Cinema" (2021) – bezeichnet worden ist (und was freilich auch nicht-phantastische Werke wie "Les tueurs fous" (1972) umfasst). Während jüngere, aktuellere Vertreter dieses Kinos meist ohne direkte literarische Vorlage daherkommen – etwa Fabrice Du Welz' "Calvaire" (2004), der allerdings "Un soir, un train" direkt zitiert –, kamen die Anfänge um 1970 meist mit eindeutiger Bezugnahme auf bereits fest etablierte Phantastik-Texte, zumeist der Flämischen Phantastik, daher. Zur Flämischen Phantastik zählten neben den Autoren des Magischen Realismus vor allem auch Georges Rodenbach, Thomas Owen, Gérard Prévot (der erst ab 1970 phantastische Erzählungen veröffentlichte) und Raymundus Joannes de Kremer, wobei gerade Letzterer modernen Horror zwischen E. A. Poe und H. P. Lovecraft mit dekadentem fin-de-siecle-Horror aus Deutschland und gothic-novel-Motivik kreuzte. Schrieb Kremer immerhin einigermaßen ausgewogen auf Französisch (als Jean Ray) sowie auf Niederländisch (als Johan Kremer), so veröffentlichten Rodenbach, Prévot oder Owen auf Französisch, weshalb die Wendung der Flämischen Phantastik sonderbar erscheinen und die Rede von einer Belgischen Phantastik vorzuziehen sein mag. Doch tatsächlich war Owen zumindest gebürtiger Flame, derweil der in Paris geborene Rodenbach immerhin in Flandern studierte und (kurzzeitig) dort lebte und schrieb. Bloß Prévot ist gebürtiger Wallone und französischsprachiger Autor zugleich und somit letztlich eigentlich fehlerhaft gelabelt. Aus Rays Hauptwerk "Malpertuis" (1943) fertigte Harry Kümel 1971 als wichtigster Regisseur des Flemish/Walloon Horror Cinema sein Opus magnum "Malpertuis: Histoire d'une maison maudite" (1972): wie später in "De komst van Joachim Stiller" ein Film auf Niederländisch, der jedoch in seiner französischen Alternativ-Version zuerst gelaufen ist und erst 1973 als Director's Cut auf Niederländisch zu sehen war. Als Kümel noch an "Malpertuis: Histoire d'une maison maudite" arbeitete, war sein erotischer Vampirfilm "Les lèvres rouges" bereits angelaufen: am 28. Mai 1971 erlebte "Les lèvres rouges" seine Uraufführung. Im Dunstkreis der lesbischen Vampirin Carmilla eines Joseph Sheridan Le Fanu, der daran anknüpfenden Filme der Karnstein-Trilogie der Hammer Studios und des Mythos rund um die Gräfin Bathory ist dieser teils kultisch verehrte Film zu sehen, der an der belgischen Küste, in einem unheimlich leeren Hotel in Ostende, ein junges Paar in den Bann der Bathory und ihrer Gehilfin geraten lässt. Auch wenn als literarischer Ahnherr eher der Ire Le Fanu im Hintergrund zu erahnen ist, so verweisen doch Morbidität und Dekadenz auf so manchen Klassiker der Flämischen Phantastik. Mit Delphine Seyrig in der Hauptrolle – die hier nach "L'Année dernière à Marienbad" (1961) in einem weiteren großartigen, wenngleich etwas weniger enigmatischen Hotelfilm zu sehen ist – und einem französischen Titel kommt der Film daher, dessen Originalton jedoch englischsprachig ausfällt: Dennoch lässt sich Kümels Klassiker aus der Hochphase des erotischen Vampirfilms wegen des Schauplatzes Ostende auch als Beispiel des Flemish Horror Cinema auffassen. Und was für ein Beispiel! Unvergleichlich pervers in seiner – graphisch zurückhaltenden, aber intensiven – Behandlung des erotisch motivierten Sadismus, unheimlich in seinem originellen Setting, erhaben und stilvoll und zugleich offen für krude Schocks, beklemmend in der Atmosphäre... und getragen nicht zuletzt von der wunderbaren Seyrig, die hier als eine der dämonischsten Leinwand-femme-fatales aller Zeiten agiert... Ein Loblied stimmt auch Intergalactic Ape-Man in seinem Review an.
Mit Seyrig und dem französischen Titel könnte man "Les lèvres rouges" trotz Handlungsort auch als Beispiel des Walloon Horror Cinema betrachten. Ansonsten kann man dessen ersten großen Paukenschlag in den 70er Jahren auf den 14. November 1971 verorten, an dem "La plus longue nuit du diable" seine Uraufführung erlebt. Diesmal auch mit französischsprachiger Tonspur, passend zum Originaltitel. Gedreht wurde zudem auf Burg Antoing in der Provinz Hennegau in Wallonien, in der Jean Brismée, der Regisseur, geboren wurde und aufgewachsen ist. Brismée ist einer der kuriosen Unbekannten des Kinos, der im Grunde ein One-Hit-Wonder darstellt und in seiner Karriere (zwischen 1955 und 1987) vor allem für das Fernsehen arbeitete. In "La plus longue nuit du diable" wirft Brismée alles in einen Topf: frühe Sadiconazista-Eskapaden (die wohl auf das Konto des Ko-Autoren Patrice Rhomm gehen dürften), Ingmar-Bergman-Anleihen, die Sieben Todsünden; Italo-Horror- und giallo-Elemente (zu denen auch die Anwesenheit von Erika Blanc in dieser auch italienischen Produktion beiträgt); Horror und Parabel vermengend, hohe Kunst mit spekulativen Exploitation-Trivialitäten kreuzend. Sieben Reisende kommen unfallbedingt auf Schloss Rhoneburg unter, wo ein ranghoher, adliger Nationalsozialist einst seine Tochter mordete, die teufelspaktbedingt womöglich zu einem Sukkubus herangewachsen wäre. Aber jede(r) von ihnen ist auf jeweils ganz eigene Weise sündig: und nach und nach fällt man einer Mordserie zum Opfer... Neben Blanc brilliert auch ein gewohnt sonderbarer Daniel Emilfork als teuflischer Fremder in diesem hochgradig kuriosen Film, der zwischen allen Stühlen hockt – und heute in der kleinen Gemeinde der Euro-Horror-Aficionados Kultstatus besitzt und drei Dekaden später das sang- und klanglos untergegangene Low-Budget-Remake "The Devil's Nightmare" (2012) erhielt.
Mehr verrät Littlemole in seinem Review...
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