Cheval (Tigris). Immobile avec points brillants (1898)
Étienne-Jules Marey ist neben Eadweard Muybridge einer der ersten großen Pioniere in der Geschichte des Films; wie Muybridge war er – allerdings noch weit konsequenter – an Bewegungsstudien interessiert. Weit über vierhundert davon gibt es mindestens, zum allergrößten Teil gut erhalten: Kaninchen fallen dort aus einem guten Meter Höhe von oben nach unten durchs Bild, sich überschlagend oder drehend, Männer werfen Bälle oder vollziehen einen Klimmzug, Kinder laufen eine Straße entlang, Pferde traben von rechts nach links durchs Bild, Insekten wimmeln im Bildfeld umher, Fechter fechten, Artisten führen einen Salto durch, Soldaten zielen knapp an der Kamera vorbei, Wasserspinnen laufen über das Wasser, Enten fliehen vor Hunden über die Erde durch die Luft ins rettende Nass, Beinpaare gehen von links nach rechts oder von rechts nach links... Jedem Motiv widmete Marey meist ein halbes Dutzend bis Dutzend Bewegunsstudien, die sich in weiten Teilen meist nur in Nuancen unterscheiden und gerade deshalb den Sinn der Bewegungsstudien gut erfüllen: den gemeinsamen Nenner konkreter, meist einfacher Bewegungsabläufe sichtbar zu machen. In diesen Arbeiten zeigt sich das naturwissenschaftliche Selbstverständnis Mareys, der als Physiologe und Erfinder zugleich bekannt war: Als letzerer entwickelte der den Aufnahmeapparat weiter, mit dem P. J. C. Janssen 1974 den Venustransit festhielt; somit war Marey ab Mitte der 1880er Jahre imstande, normale Alltagsbewegungen, die sich über einige wenige Sekunden(bruchteile) erstreckten, fotografisch festzuhalten. Bei den Ergebnissen handelte es sich um simultane Abbildungen der einzelnen Bewegungsstadien, um sogenannte Chronophotographien: eine Bezeichnung, die Marey selbst nach alternativen Bezeichnungen favorisierte und die sich in den späten 1880er Jahren auch durchsetzte. Aber schon sein Mitarbeiter Georges Demenÿ begann damit, die fotografischen Abbildungen wieder in Bewegung zu setzen: Neben den Chronofotografien liegt der größte Anteil von Mareys Bewegungsstudien in dieser konventionellen Filmform vor, von der Cinémathèque française penibel katalogisiert.
Der von Marey und Charles Comte angefertigte "Cheval (Tigris). Immobile avec points brillants" aus dem Jahr 1898 jedenfalls ist unter Mareys Bewegungsstudien zugleich die spannungsärmste und bizarrste: denn diese Bewegunsstudie ist eher ein Unfall und bietet nahezu keinerlei Bewegung dar. Steif und gerade steht das Pferd reglos dar; vermutlich dürfte es sich um einen einfachen Fehlschlag gehandelt haben, der für Marey keine Bedeutung hatte. Katalogisiert aber ist auch dieser Film, der als minimalistische Abbildung reiner Statik ein Kuriosum im frühen Film darstellt: wobei die Dauer weniger frames freilich verhindert, dass "Cheval (Tigris). Immobile avec points brillants" bereits als früher Avantgarde-Film, als filmische stasis à la Warhol gelten kann.
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