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von PierrotLeFou

Vor 100 Jahren: Sjöströms großer Unterschlagener

Stichwörter: 1920er Drama Ekman Hasselqvist Jubiläum Klassiker Liebesfilm Schweden Sjöström Skandinavien Spielfilm Stummfilm

Vem dömer (1922)

Wieder einmal feierte ein Victor Sjöström am Neujahrstag seine Premiere in schwedischen Kinos. Und wieder einmal griff Sjöström, der zuletzt mit seinen Lagerlöf-Verfilmungen, insbesondere mit "Körkarlen" (1921) großen Ruhm erlangte, auf ein Liebesdrama im historischen Setting zurück. Aber "Vem dömer" ist einer der unbekannteren Sjöströms geworden, obgleich er der Blütezeit des skandinavischen Kinos entspringt, obgleich Sjöström im Vorjahr seinen ohnehin schon bemerkenswerten Ruhm nochmals ganz gehörig untermauern sollte, obgleich "Vem dömer" inszenatorisch all jene Brillanz aufweist, für welche man Sjöström gemeinhin bewundert... Und doch: "Vem dömer" zählt zu den gerne übergangenen Sjöströms: er wird vergleichsweise selten erwähnt, seltener bewertet oder besprochen, kaum gezeigt. Und noch dazu wird die – gerne als naiv oder banal gerügte – Handlung (eventuell aufgrund der Zwischentitel ausländischer Fassungen) vielfach verfälscht wiedergegeben: Keine berechnenden Mordpläne schmiedet Ursula (Jenny Hasselqvist), die Hauptfigur in diesem Film, als die unglücklich Vermählte mitten in einer langwierigen Affäre (mit Gösta Ekman) bei einem Wandermönch giftige Kräuter zu erstehen gedenkt... "Nej, nej allstra käraste, I fär icke fara ifran mig! Och är vär kärlek ett brott, sa är oss döden bättre än livet!", lautet immerhin der schwedische Zwischentitel an der entscheidenden Stelle, an der vielmehr die Pläne für einen Liebestod und Doppelselbstmord enthüllt werden. Als dann später der Gemahl an einem Herzinfarkt stirbt, als er im Rahmen eines Spiegels (quasi als Projektion, als rechteckig kadriertes Filmbild seiner Vorstellungkraft) sieht, wie seine Gattin das vermeintliche Gift, das tatsächlich harmlos ist, in einen – seinen? – Becher kippt, da klärt bezeichnenderweise keinerlei Zwischentitel darüber auf, welche Pläne Ursula in diesem Moment wirklich hatte. Mehr noch: Die Frau, die eine heftige Drohgebärde ihres rasenden Gemahls widerstandslos und stoisch über sich ergehen lässt, wird – als er sich erst versöhnlich, dann wieder wegen der berechtigen Annahme eines versteckten Liebhabers enttäuscht zeigt – gebeten, ihm etwas zu trinken zu reichen: und sie trinkt dann erst einmal selbst aus dem Becher, in den sie Wasser schüttet. Und in genau diesen Becher schüttet sie dann das vermeintliche Gift, wobei ein frappierender, aber vielleicht gar nicht einmal so unbeabsichtigter Anschlussfehler den Eindruck erweckt, es handele sich um den danebenstehenden, wesentlich verzierteren Becher. Sjöström lässt im Unklaren, wem das vermeintliche Gift gelten sollte; lässt seine Figuren zudem im Unklaren, dass es sich gar nicht um Gift handelt. (Der Wandermönch, der hier mit bester Absicht die betroffenen Figuren narrt, kann fast schon als Alter Ego Sjöströms gesehen werden.) Es geht in "Vem dömer" um Irrtümer, Täuschungen, Missverständnisse: Ursula wird im Finale, kurz vor einer bevorstehende Gottesurteil-Feuerprobe, aus derselben Perspektive in denselben Spiegel schauen wie einstmals ihr Gatte, um den Grund für sein Herzversagen zu begreifen. Andere Perspektiven anzunehmen: das ist die  Moral dieses Dramas. Und einer großen Menschenmenge eine gemeinschaftliche Perspektive anzubieten: das scheint Sjöströms Verständnis vom Kino gewesen zu sein, das er hier in zwei zentralen Spiegel-Szenen spiegelt: Der schmuck gerahmte Spiegel ist stets derselbe; aber mit welchem subjektiven Blickwinkel man in ihn hineinschaut, das ist entscheidend. Und dafür weckt Sjöström das Gespür des Publikums. Und da passt es dann schon wieder ganz gut, dass die Handlung des Films Opfer von mancherlei Missverständnissen geworden ist... Das der Film aber in Sjöströms Filmografie so vernachlässigt wird, ist hingegen eine Schande: denn trotz seiner phantastischen, parabelhaften Elemente wie den blutenden Jesusfiguren und dem Gottesurteil ist "Vem dömer" kein naiv religiöses, platt moralisierendes Erbauungsdrama – sondern ein höchst reflektierter Film, der Subjektivität, Intersubjektivität, Objektivtität, Projektion und Filmprojektion spannend verhandelt.
Mehr zum Inhalt verrät die Inhaltsangabe von PierrotLeFou...


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