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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Zwischenbilanz des Neuen Deutschen Films – 1968-Retrospektive XVI, Ästhetik & Rebellion V

Stichwörter: 1960er 1968-Retrospektive Deutschland Edel Essayfilm Hoger Hörmann Jubiläum Klassiker Kluge Mainka-Jellinghaus Neuer-Deutscher-Film Spielfilm

Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos (1968)

Sieben Jahre drehte er bereits (Kurz-)Filme, sechs Jahre lag die Verlesung des Oberhausener Manifests zurück, als Alexander Kluge am 30. August 1968 "Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" in Venedig zur Uraufführung brachte und den Goldenen Löwen erhielt. Kluges zweiter Langfilm war allerdings auf radikale Weise derart eigenwillig, dass er hierzulande sein doch eher kleines Publikum gehörig irritierte. Unter dem Titel "Gesellschaft und Film" sollte 1970 im WDR Kluges Filmästhetik insbesondere anhand der "Artisten in der Zirkuskuppel" diskutiert werden – die Sendung uferte gehörig aus und mutierte zum 130minütigen Mini-Skandal namens "Reformzirkus", in welchem es auch um den Verlauf dieser Sendung selbst aber auch um die Möglichkeiten des Fernsehens ging. Der Titel "Reformzirkus" entstammt freilich Kluges "Artisten in der Zirkuskuppel", der bereits eine ähnlich selbstreflexive, analytische Struktur besitzt – humorvoll verpackt inmitten von absurden Gags.
"Artisten in der Zirkuskuppel" treibt die Selbstreflexion des Kinos im '68er-Umfeld so weit wie kaum ein anderer Film: bloß Godard, Kluges großes Vorbild, ließe sich zweifelsohne (etwa mit "Le gai savoir" (1969)) anführen. Die zwei – jeweils auch heute noch mit 86/87 Jahren aktiven – Regiegrößen überführten den traditionellen Spielfilm zu jener Zeit in tendenziell durchaus etwas sperrige Essayfilm-Bereiche. Alexander Kluge ließ Hannelore Hoger – neben Alfred Edel einer der Stars des Films – als Zirkus-Reformerin Leni Peickert ein ganz neues Zirkus-Konzept erarbeiten, das zunächst an der Finanzierung, später am fehlenden Publikum scheitert (woraufhin Peickert ihre Aufmerksamkeit auf das Fersehen und seine Reformierungsmöglichkeiten verlagert). Unübersehbar spiegelte sich hier die Rolle der Filmemacher des Neuen Deutschen Films wieder, der seit Mitte der 60er Jahre mithilfe des Kuratoriums Junger Deutscher Film, seit Anfang der 70er Jahre mithilfe des Filmverlags der Autoren gefördert worden war. Zugleich gilt der Blick aber auch einem größeren kulturellen Umfeld – etwa der Gruppe 47, die hier zu sehen ist und deren Treffen als Tagung von Zirkusdirektoren dargeboten wird, wenn nicht gar der jungen (allerdings kaum von Finanzierungsproblemem geplagten) Protestbewegung der Jahre '67/'68, zu welcher auch Günther Hörmann gehörte, der hier die Kamera führte und an der Hochschule für Gestaltung Ulm bedeutende Dokumentarfilme über die Studenten- und Arbeiterbewegung anfertigte.
Die bisweilen utopisch anmutenden Ziele von Leni Peickert spiegeln sich wiederum in der Ästhetik des Films selbst, der den (deutschen) Film revolutioniert, indem er sich als teilweise berechnend willkürliche Collage präsentiert, die sich daran versucht, Unvereinbares zu kombinieren: Es beginnt mit Hitler zu einem spanischen Beatles-Cover und endet mit einer Verdi-Einführung eines Oberstudienrats. Selten mutete Kluge bruchstückhafter und assoziativer an: Beate Mainka-Jellinghaus, die langjährige Reitz- und Kluge-Begleiterin, schnitt den Film nach Kluges Vorstellungen; wie konkret dessen Vorgaben waren, war jedoch umstritten: Kluge ließ bisweilen verlauten, er habe gänzlich ohne Drehbuch aus einer Frustration heraus gearbeitet, bisweilen sprach er von einjähriger Vorarbeit.
So oder so: Gelungen ist ihm (und seinen Mitstreitern) einer der radikalsten deutschen Filme des Jahres – außerhalb des Experimentalfilm-Sektors –, dessen aufgeworfenen Fragen, Gedanken, Thesen trotz mancherlei Zeitgeist noch heute von Bedeutung sind, wenn es um Freiheit und Zwang im Bereich der Kunst geht.
Zusammen mit "Reformzirkus" und der Fortführung "Die unzähmbare Leni Peickert" (1969) liegt der Film in der verdienstvollen Reihe Edition filmmuseum auf DVD vor (Eintrag von Mr. Moose), Kluge-Fans können aber auch gleich zur inhaltlich identischen Kluge-Box von Zweitausendeins greifen, die alle Kluge-Titel der Edition filmmuseum in sich vereinigt: Von TakaTukaLand ergänzter Fassungseintrag von Bretzelburger


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