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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Opus Magnum von Andy Warhol

Stichwörter: 1960er Berlin Dokumentarfilm Erotik Jubiläum Klassiker Menken Morrissey Nico Ondine Sedgwick Spielfilm Superstar Underground USA Warhol Woronov

Chelsea Girls (1966)

In der Literatur der Moderne nimmt das Motiv des Hotels seit Marcel Proust, Thomas Mann, Vicki Baum, Stefan Zweig und vielen anderen eine populäre Stellung ein: Wes Anderson hat dieses Motiv mit "Grand Budapest Hotel" (2014) vor Kurzem aufgegriffen (wie wenig später Paolo Sorrentino mit "Youth" (2015)) und darauf aufmerksam gemacht, dass der Hotelstoff vor allem im frühen 20. Jahrhundert verankert ist - in welchem auch große Filme wie "Grand Hotel" (1932) oder "Hotel Imperial" (1927) entstehen. Hotels als Knotenpunkte sich verzweigender Einzelschicksale, als Orte des Kontaktes und der Kommunikation. Im Spielfilm des späten 20. Jahrhunderts nehmen große Hotels - trotz solcher Werke wie "'Hukkunud Alpinisti' hotell" (1979) - eine weniger deutliche Stellung ein (und sind wie in "The Shining" (1980) bisweilen sogar völlig entvölkert) - während dokumentarische Filme das Hotel in jüngster Zeit für sich entdecken: Der exzellente "Hôtel Monterey" (1972) von Chantal Akerman wäre vor allem zu nennen. Ab der Jahrtausenwende häufen sich dann die Titel: "Sunshine Hotel" (2001), "Camp Hollywood" (2004), "Hotel Gramercy Park" (2008) und vor allem Abel Ferraras (etwas enttäuschender) "Chelsea on the Rocks" (2008) widmen sich dem Hotelalltag. Und "Chelsea on the Rocks" verweist zugleich zurück auf einen vier Jahrzehnte älteren Titel über das Chelsea Hotel, in welchem so viele schillernde Persönlichkeiten, Musiker und Künstler wohnten oder auch starben.

"Chelsea Girls", der - nach Vorführungen des unfertigen Films ab August - am 15. September 1966 seine Uraufführung in New York erlebte und ab Dezember regulär in die Kinos kam - und das sogar auch außerhalb der USA! -, ist Andy Warhols Denkmal für das Chelsea Hotel, dessen Bekanntheit vom Film erheblich profitierte. Anders als "Empire" (1964), seine Ode an das Empire State Building, ist "Chelsea Girls" jedoch kein minimalistischer Experimentalfilm, sondern ein (für Warhol-Verhältnisse) durchaus massenkompatibler, experimenteller Underground-Spielfilm mit dokumentarischen Zügen, in welchem Warhols Superstars (darunter Nico, Ondine, Marie Menken, Brigid Berlin, Edie Sedgwick, Ingrid Superstar, Mary Woronov) in zwölf verschiedenen Zimmern des Chelsea Hotels (wobei auch anderswo, etwa in Warhols Factory, gedreht worden war) nach Drehbuch spielen oder aus dem Stehgreif improvisieren. Teilweise unter Drogeneinfluss wird über das Frisieren, über Körperlichkeit, über Sex oder über Drogen sinniert, wobei sich die Personen, die sich ein Zimmer teilen, teils gewalttätig anfeinden: Es kommt zu harschen Beleidigungen, krassen Vorwürfen und physischer Gewalt. Das verleiht dem 3½stündigen Film mit der Zeit eine unglaubliche Intensität, zumal die 12 Episoden, von denen immer zwei per split screen zur gleichen Zeit gezeigt werden, nach anfänglichen s/w-Bildern zunehmend in satten Farben daherkommen. Es ist ein aufwühlender und dank der losen, freien, entschleunigten Dramaturgie, die sich kaum als solche bezeichnen lässt, auch ein sehr entspannter Film, der einlädt, in ihm mit seinen immer rauschhafteren Farbbildern und seinen Figuren im Drogenrausch zu versinken.  Ein Film, der aber nicht einzig schwelgerisches Versinken fördert, sondern einen auch immer wieder mit verstörenden Elementen aufrüttelt. "Chelsea Girls" entwickelte sich zwar zu einem großen kommerziellen Erfolg für Andy Warhol, musste aber mit zahlreichen Verrissen und Polizeieinsätzen leben, wie es sich für gute Underground-Filme gehörte. Heute gilt "Chelsea Girls" längst als wichtiges Beispiel des Underground-Kinos - und nicht bloß deshalb, weil 1967 die uralte Technik des split screens einen enormen Boom erlebte, der bis Anfang/Mitte der 70er Jahre hielt.
Bei Raro Video liegt der Film auf DVD vor, wobei die anfangs freie Reihenfolge der einzelnen Episoden durch Paul Morrissey gegen eine feste Form, welche Warhols Intention entsprechen soll, ersetzt worden ist: Fassungseintrag von Der Mann mit dem Plan


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