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von ratz

Vor 75 Jahren: Jean-Pierre Melville landet einen minimalistischen Coup

Stichwörter: 1940er Drama Frankreich Jubiläum Klassiker Krieg Kriegsfilm Literaturverfilmung Melville Robain Spielfilm Stéphane Vercors Vernon

Le silence de la mer (1949)

Die Filme von Jean-Pierre Melville handeln fast immer von schweigsamen, einsamen Männern, die Außenseiter der Gesellschaft sind – Roger Duchesne als „Bob le flambeur“ (1956), Lino Ventura in „Le deuxième souffle“ (1966) und natürlich Alain Delon in „Le Samouraï“ (1967) oder „Un Flic“ (1972). Und selbst als mit zweijähriger Verspätung am 22. April 1949 „Le silence de la mer“ anlief, Melvilles erster Langfilm überhaupt, hatte dieser als zentrale Figur einen einzelgängerischen (Anti-)Helden, war allerdings kein Gangsterfilm, welcher das spätere und bekanntere Werk des Regisseurs dominiert.

Vielmehr ist „Le silence de la mer“ der erste Teil einer losen Résistance-Trilogie, die auch „Léon Morin, prêtre“ (1963) und „L‘armée des ombres“ (1969) umfaßt. Vielleicht war es die Vereinsamung des Résistance-Kämpfers, wie es Melville während der deutschen Besatzung Frankreichs zwischen 1940 und 1944 selbst gewesen war, die seinem Kino ihren markanten Stempel aufdrücken sollte. Doch ist es in seinem Erstlingsfilm „Le silence de la mer“ gerade kein französischer Widerstandskämpfer, der im Mittelpunkt steht, sondern ein deutscher Offizier, der im Haus eines alten Mannes und seiner Nichte (Nicole Stéphane und Jean-Marie Robain) Quartier bezieht. Dieser Offizier, gespielt mit bedächtiger Eleganz von Howard Vernon, ist ausgerechnet kein teutonischer Herrenmensch, sondern ein überaus gebildeter, frankophiler Komponist, der fließend französisch spricht. Trotz seiner tadellosen Manieren begegnen die Hausbewohner dem Besatzer und Feind mit passivem Widerstand und strafen seine wohlgesetzten Monologe oder Fragen konsequent mit Schweigen. In seinen poetisch überhöhten Ausführungen erweist sich der sanftmütige Deutsche als hoffnungsloser Träumer und realitätsferner Romantiker, der im Krieg lediglich eine Vorstufe zur Heilung des deutschen Wesens durch die innige Verbindung der beiden Nachbarländer sieht. Um so härter trifft diesen Sonderling die Desillusionierung, als er durch den deutschen Führungsstab in Paris erfährt, daß nicht etwa die Rettung, sondern die totale Vernichtung der französischen Kultur geplant ist. Das plötzlich einsetzende Schweigen des Offiziers ist eines des Schocks und der Resignation, er ähnelt für den Rest des Films einem jener typischen Melville-Protagonisten der 1960er und 1970er Jahre.

Die OFDb-Kritik von Bretzelburger schildert ausführlich Melvilles Verzicht auf eine konventionelle Spannungsdramaturgie und den Einsatz verschiedener Techniken der Reduzierung und der Langsamkeit, die „Le silence“ absichtlich „anti-cinematisch“ (so der Regisseur) werden lassen. Hingegen beschreiben die Bonusmaterialien der Blu-rays aus dem englischsprachigen Ausland (z.B. die der Criterion Collection, Fassungseintrag), mit welcher Zielstrebigkeit Melville seinen Erstling gleichsam als Coup realisierte: Völlig vorbei an der französischen Filmindustrie, ohne die Rechte an der Literaturvorlage des Schriftstellers Vercors erworben zu haben, mit minimalem Budget und über mehrere Monate gedreht, um dann einem Komitee aus ehemaligen Résistancemitgliedern anzubieten, die Negative des fertigen Films zu verbrennen, sollte ihnen „Le silence“ nicht zusagen. Mit seinen unkonventionellen, minimalistischen und zugleich effektiven Methoden sollte Melville ein (von dieser oft ungeliebter) Vorreiter der Nouvelle Vague werden.


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