12 dicembre (1972)
Im Mai 1972 erlebte mit "12 dicembre" ein Dokumentarfilm erste öffentliche Aufführungen, der einen berüchtigten Bombenanschlag aus dem Jahr 1969 und seine Folgen zum Thema hatte: Am titelgebenden 12. Dezember des Jahres 1969 kam es auf der Piazza Fontana zu einem Bombenanschlag, bei dem über hundert Personen in Mitleidenschaft gezogen worden waren: 17 Tote und fast 90 Schwerverletzte waren die Folge des Anschlags, als deren Täter man schnell Anarchisten ausmachte: und so wurde der Anarchist Giuseppe Pinelli als mutmaßlicher Täter festgenommen und länger als erlaubt festgehalten und verhört, bis er am 15. Dezember 1972 unter ungeklärten Umständen aus dem Fenster des Polizeigebäudes stürzte – aus dem 4. Stock. Während die Umstände ungeklärt blieben, ließ sich späterhin aber die Unschuld des Anarchisten Pinelli beweisen. Tatsächlich waren nicht Anarchisten die Drahtzieher des Anschlag, dem noch am selben Tag andere Anschläge in Italien folgten, sondern rechte Neofaschisten, die auf lange Sicht einen Putsch planten und die Anschläge der Linken anzulasten versuchten.
Pasolini hatte zum Jahrestag, am 12. Dezember 1970, mit dem noch "Attacco al potere" betitelten Projekt begonnen – und dafür sogar die Montage von "Il Decameron" (1971) unterbrochen. Dass ihm das Projekt am Herzen lag, verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass Pasolini den Bombenanschlag seinerzeit mit dem Gedicht "Patmos" (1969) verarbeitet hatte; noch in "Der Roman von den Massakern" (1974) spannte er den Bogen von den Anschlägen am 12. Dezember 1969 zu den Anschlägen des Jahres 1974, um zu verkünden, er kenne die Namen jener, die dafür verantwortlich wären und einen Putsch planten. Obgleich meist als Randnotiz in Pasolini-Filmografien abgetan, spricht vieles dafür, in "12 dicembre" einen der Schlüsselfilme in Pasolinis Spätwerk zu sehen, der mit seinen literarischen Arbeit eher in Einklang steht als seine berühmte Trilogie des Lebens. Deren zweiter Teil, "I racconti di Canterbury" (1972), ließ gerade Dreharbeiten in Europa anstehen, als Pasolini die Arbeit an "12 dicembre" zurückschrauben musste. Zu diesem Zeitpunkte hatte er Interviews mit Pinellis Witwe, mit Arbeitern und Studenten geführt: der Tod des Studenten Saverio Saltarelli am 12. Dezember 1970, als er auf einer Demonstration von Carabinieri während ihres gewaltsamen Vorgehens gegen die Demonstranten unglücklicherweise einen Tränengaskanister in Brusthöhe abbekam, war mittlerweile ein anderes Thema des Films, der zwischenzeitlich in "Il 1969" umbenannt worden war, später eben den Titel "12 dicembre" erhielt und auch einen Überblick auf die Stimmungen und Haltungen in Italien insgesamt liefern sollte. Das jedoch war nicht ganz im Sinne der 1969 gegründeten linken Gruppierung Lotta Continua im Studentenmilieu; und mit der Lotta Continua hatte Pasolini das Projekt begonnen, obgleich unterschiedliche Haltungen von Anfang an auf der Hand lagen, hatte Pasolini doch mit seinem Gedicht "Die KPI an die Jugend!!" (1968) während der Studentenbewegung Partei für Polizisten als Söhne armer Väter ergriffen und nicht für die Studenten als privilegierte "brave Bürgersöhne". Auch die Lotta Continua hatte reichlich Material angefertigt: Pasolini zufolge etwa 50% mehr als er selbst, wie er zwischenzeitlich erklärte; im Nachhinein gab er an, etwa 60% des verwendeten Material angefertigt zu haben... Und während Pasolini eine Art Bestandsaufnahme der Befindlichkeiten in italien zu Beginn der 70er Jahre angepeilt hatte, wollte man bei Lotta Continua eher einen militanten Agitprop-Film. Nachdem man sich zunächst angenähert hatte, driftete man nun also wieder auseinander: Es kam zu kleineren Streitigkeiten und Pasolini nahm nicht zum ersten Mal das Wörtchen "Linksfaschismus" in den Mund. Dennoch wurde das Projekt in einer Zusammenarbeit beider Seiten beendet: der von Pasolini früh eingespannte Giovanni Bonfanti betreute den Großteil der Montage des Materials und wurde von allen Beteiligten als derjenige akzeptiert, der offiziell als Regisseur aufgeführt werden sollte; Pasolini ließ sich auf Anraten von Anwälten bloß als Ideengeber listen. Die Montage war erst im Februar 1972 abgeschlossen, nachdem der Film im Dezember 1971 den endgültigen Titel "12 dicembre" erhalten hatte: Schon jetzt wurde er in kleinem Rahmen gezeigt, Kopien für den größeren Vertrieb wurden aber erst im April 1972 angefertigt: Ab Mai machte "12 dicembre" dann die Runde, unter anderem auch auf der Berlinale. Die Kopie, die dort zu sehen war, wurde von Karl-Heinz Dellwo, dem einstigen RAF-Mitglied und Gründer des LAIKA-Verlags, im 21. Jahrhundert in Hamburg gefunden, nachdem die Suche in Italien ergebnislos blieb. In LAIKAs Reihe Bibliothek des Widerstands liegt der lange unzugängliche "12 dicembre" – neben Elio Petris Film zum Fall Pinelli – seit über sieben Jahren auf DVD vor: Fassungseintrag von PierrotLeFou
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