Thaïs (1917)
Ab 1909 entsteht in Italien der sogenannte Futurismus, der Expressionismus, Dadaismus, Art Déco oder auch Surrealismus vorwegnahm und als italienischer Beitrag zur modernen Avantgarde gilt. Der Futurismus betraf als Bewegung nahezu alle Medien und Kunstformen und machte auch vor dem Film nicht halt, wenngleich die jeweiligen Beispiele spärlich gesät und heute beinahe allesamt verschollen sind. Arnaldo Ginna und Lucio Venna legten 1916 den ersten futuristischen Film vor: "Vita futurista" (1916), welcher längst nicht mehr erhältlich ist. Es folgt ein halbes Dutzend weiterer futuristischer Filme in den folgenden zwei Jahren, von denen allerdings nur Anton Giulio Bragaglias "Thaïs" (halbwegs) erhalten geblieben ist, welcher am 4. Oktober 1917 in Rom seine Uraufführung erlebt hatte: aber auch dieser Film liegt bloß als etwa halbstündige Rumpffassung eines ursprünglich beinahe doppelt so langen Films vor. Im Gegensatz zur futuristischen Malerei mit ihrem rasanten Taumel der Formen und der Huldigung der Bewegung & Geschwindigkeit und selbst noch im Gegensatz zur futuristischen Plastik erscheint der futuristische Film jedoch sonderbar starr & statisch: "Thaïs", der trotz seines Titels nichts mit Anatole Frances Roman und dessen gleichnamigen Verfilmungen zu tun hat, ist im Grunde ein traditionelles Melodram. Ein Rührstück über Liebe, Betrug, Reue und Liebestod, welches allerdings in vielen Innenaufnahmen über eine erstaunlich artifizielle Dekoration verfügt. Diese spiegelt zwar kaum die Rasanz der futuristischen Malerei wieder, teilt mit ihr allerdings bisweilen die Vorliebe für das Maschinelle & Unmenschliche... Die Kritik fiel recht bescheiden aus, dennoch darf man annehmen, dass "Thaïs" nicht ohne Einfluss auf z.B. Marcel L'Herbiers Art Déco-Klassiker "L'inhumaine" (1924) oder Robert Wienes Expressionismus-Meilenstein "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920) geblieben ist - und auch einige Momente des surrealen Films lassen sich hier bisweilen entdecken (wie z.B. die Augen an den Wänden einer Zimmers). Zudem ist er als früher Avantgarde-Film von Interesse, denn vor der eigentlichen Ära der Filmavantgarde, vor den 20er Jahren, lassen sich nur wenige Filme finden, welche eindeutig der Avantgarde zuzuschreiben sind. Als solch ein Avantgarde-Klassiker ist "Thaïs" durchaus von filmhistorischer Bedeutung, wenn auch der futuristische Filme bloß eine Randerscheinung des Futurismus blieb und sich in Italien als neue filmische Kunstform gegenüber den monumentalen Kolossal-Filmen, dem veristischen Film und dem Diven-Film nicht durchsetzen konnte.
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