Kino-pravda (1922)
Sergei M. Eisenstein ist und bleibt wohl der populärste russische Filmemacher, der zu Stummfilmzeiten mit seiner Arbeit begonnen hatte. Aber unter den eingefleischten Fans des sowjetrussischen Stummfilms genießt nicht selten ein anderer Russe die größere Verehrung: Dziga Vertov, den Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin Ende der 60er Jahre zu Namensgeber ihrer Groupe Dziga Vertov machten (wohl auch deshalb, weil Vertovs Kinoki-Gruppe die erste bedeutende Gruppierung von Filmschaffenden darstellte). Julian Radlmaier legte etwa gerade nicht bloß einer Figur seiner marxistischen Vampirkomödie "Blutsauger" (2021) die Aussage in den Mund, mehr für Vertov als für Eisenstein übrig zu haben, sondern pflegt diese Einschätzung auch selbst. Vertovs Filme sind ausgesprochen thythmisch, feiern auch entsprechend den Fortschritt der Technik und der Maschinen, sie sich noch dazu mehr essayistisch und dokumentarisch ausgerichtet und vor allem sind sie immens selbstreflektiert, insbesondere Vertovs Meilenstein "Chelovek s kino-apparatom" (1929), der als Höhepunkt der Phase seines Hauptwerkes gilt, die man zwischen "Shestaya chast mira" (1926) und "Tri pesni o Lenine" (1934) ansiedeln könnte. Vorausgegangen waren dieser Phase Vertovs Kinoglaz-Programm, das er als Theoretiker vertrat, und seine "Kino pravda"-Reihe, mit der er an seine Erfahrungen als Cutter, Kameramann und Regisseur von Kinonachrichten, von Agitki anknüpfte. In fast zwei Dutzend Nummern, die ab Juni 1922 in die Kinos gelangten, entwickelte Vertov mit Elizaveta Svilova und Mikhail Kaufman eine Art Nachrichtenformat, das im Umfeld von Agitprop die Verfahren der Agitki allmählich verfeinern sollte: Verglichen mit den Filmen, die Vertov einige Jahre später drehte, sind die "Kino pravda"-Filme vergleichsweise wenig dynamisch. "Kino-pravda no. 1" ist dafür ein gutes Beispiel; doch der Film über Hunger und seine Bekämpfung mit Konfiszierungen bietet gegen Ende mit der aus dem Flugzeug blickenden Kamera einen spektakuläreren Schauwert, an den die Reihe später mit Animationen, gesteigerten Bilddynamiken und mit recht ausdrucksstark gestalteten Zwischentiteln aknüpfte. Vergleicht man "Kino-pravda no. 18" mit dem ersten Beitrag der Reihe, ist kaum zu übersehen, welche Fortschritte gerade die Dynamik gemacht hat: Die Kamera gleitet fort empor, fährt seitlich oder vorwärts, mehrfach bewegen sich Objekte im Vordergrund schnell an ihr vorbei. Auch die Mittel, um mit der Kamera und der Montage die gefilmte Umgebung im Sinne einer Wahrheit zu gestalten, verfeinerten sich nach und nach. Die "Kino-pravda"-Filme bildeten damals ein work in progress, das den Fortschritt nach der Revolution vermitteln sollte. Heute dienen sie als (film-)historische Dokumente, an denen sich vor allem auch Vertovs eigene Entwicklung als Filmschaffender ablesen lässt.
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