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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Godard in Großbritannien: Ende des Frühwerks – 1968-Retrospektive XIX, Ästhetik & Rebellion VIII

Stichwörter: 1960er 1968-Retrospektive Essayfilm Godard Großbritannien Jagger Jones Jubiläum Klassiker Richards Rolling-Stones Spielfilm Stamp Watts Wiazemsky Wyman

1+1 (1968)

Salopp gesprochen: 1968 war ein ziemliches Drüber und Drunter... Und es gibt wohl keinen Filmemacher, in dessen Filmografie diese Auf- & Umbruchszeit deutlicher ihre Spuren hinterlassen hätte als es bei Godard der Fall war. Einige Zeit nach dem Pariser Mai das ist an der Verwendung einiger "Cinétracts" (1968) in dem Film zu erkennen – stellte er den schon Ende 1967 und Anfang 1968 gedrehte "Le gai savoir" (1969) fertig, der erst im Folgejahr zur Uraufführung gelangte. Ebenfalls 1967 hatte er sich für ein Projekt in Großbritannien verpflichtet, das er dann schon Ende Mai – als sich in Paris die Unruhen zu legen begannen, aber noch deutlich spürbar waren – und direkt nach den "Cinétracts" in Angriff nahm, aufgrund widriger Umstände dann aber mit längeren Pausen unterbrechen musste, in denen er dann im Kollektiv "Un film comme les autres" (1968) drehte und sich zum Missfallen der Produzenten mit den Pariser Student(inn)en beschäftigte, ehe er sich schließlich an den vorzeitig abgebrochenen "One A. M." (1969) machte. Dieses britische Projekt war der am 30. November 1968 uraufgeführte "1+1" und erhob – nachdem ein Schwangerschaftsabbruchsthema an Aktualität verloren hatte und nachdem die Beatles sich nicht mehr zur Verfügung stellen mochten – die Rolling Stones zum Thema.
Gemeinsam proben sie in langen Einstellungen für "Sympathy of the Devil", tasten sich probierend und weitgehend im stillschweigenden Einverständnis voran, bauen Stück für Atück ihren Song weiter aus, der im Director's Cut letztlich nie zu hören sein wird. Unterbrochen werden diese Proben von Auftritten militanter Black-Power-Aktivisten und deren Haltung zur weißen Frau, von einem absurden und nur Ja-/Nein-Antworten erntenden Interview mit einer Dame namens Eve Democracy, von Lesungen in einer faschistoiden Buchhandlung – und von vielen, vielen angefertigten Wandschriften ("Freudemocracy", "Cinemarx", "Sovietcong") sowie der fragmentarischen Lesung eines Pulp-Romans durch einen Erzähler, der bald nur noch Seitenzahlen und Namen in den Raum wirft... Under the Stones, kalauert eine Texttafel zwischendurch, liege der Strand; und der Film, der am Strand mit den Dreharbeiten eines närrischen Filmemachers (Godard) endet, bricht zuvor gewissermaßen immer wieder das Pflaster auf: bebildert den rebellischen Atem des Jahres der durch die Oberflächen der Mode, der Comics, der Erotikmagazine, der Pulpromane, der Kleidung weht.
Auf diese Montage unzusammenhängender Elemente verweist "1+1" weit mehr als auf das Zusammenbasteln ihres Songs durch die Rolling Stones. 1+1 sei nicht 2, sondern zunächst einmal eben bloß 1+1 – das hatte Godard einige Zeit zuvor verlauten lassen. In "Le gai savoir" und "1+1", seinen Übergangsfilmen, die noch im Jahr 1967 wurzelten, dominiert dieses Nebeneinander die godardsche Ästhetik, die er als einer der wichtigen Vorläufer oder gar Pioniere der filmischen Postmoderne mit "Pierrot le fou" (1965), "Made in USA" (1966) und "2 ou 3 choses que je sais d'elle" (1967) entwickelt hatte. "Un film comme les autres", der gewissermaßen back-to-back mit "1+1" entstanden war, konzentrierte sich dagegen mehr auf den Minimalismus, der viele von Godards Kollektiv-Filmen durchzieht (und hier in langen Einstellungen bereits anklingt). Schon ästhetisch beendet "1+1" Godards Frühwerk endgültig – dass er dem Produzenten für das Hinzufügen des vollständigen, fertigen Rolling-Stones-Songs eine schallende Ohrfeige verpasst haben soll, setzte bloß noch ein dickes Ausrufezeichen hinter diesen Bruch.
Fortan folgten seine unsichtbaren Filme, die gar nicht mehr auf konventionellem Wege vertrieben wurden und kaum zu sehen waren. Erst 1979 kehrte er – wenn man die konventionellere Zusammenarbeit mit Gorin und dem gemeinsamen Kollektiv an "Tout va bien" (1972) einmal unberücksichtigt lässt – wieder mit einem zweiten Debütspielfilm in die Kinos zurück: mit "Sauve qui peut (la vie)" (1979). Die Popularität der Rolling Stones nahm indes weiter zu: Der Tod von Brian Jones und vor allem der in "Gimme Shelter" (1970) dokumentierte Todesfall während ihres Altamont-Konzerts standen wenig später nahezu symbolisch für das Verebben der 68er-Bewegung. "1+1" ist dagegen noch Zeugnis aktiver Rebellion & revolutionärer Utopie und wie "Woodstock" (1970) mit seiner harmonischen Friedfertigkeit ein (anderes) Gegenstück zum "Gimme Shelter" der Maysles.
Godard-Freunde dürften sich wenig an der Uneindeutigkeit der Botschaften von "1+1" stoßen und im Film ein Füllhorn gewitzten Hintersinns erblicken, das Geistreiches, Prätentiöses, Witziges und gewiss auch eine Menge Langatmigkeit zu einem interessanten Zeitbild vermixt, welches aber zumindest rudimentäre Kenntnisse (etwa der SDS oder der FLN) voraussetzt. Der Auftritt von Anne Wiazemsky, die sich gerade von Godard zu trennen begann, aber bis Anfang der 70er Jahre noch in seinen Filmen auftauchte, rundet das Ganze für Godard-Jünger noch ab. Terence Stamp, der im selben Jahr an Wiazemskys Seite in Pasolinis "Teorema" (1968) spielte, hätte hier eigentlich auch dabei sein sollen; es war wohl ein kleiner Drogenskandal, der dann für eine Verhinderung sorgte. Und noch etwas dürfte zumindest den Liebhabern des Spätwerk-Godards (ab den 80er Jahren) vertraut sein: Godards etwas egozentrische Inszenierung seiner Person als eine Art heiliger Narr oder dostojewskischer Idiot; gab er zuvor schon auf Tonspuren den unsicheren Grübler, agiert er hier erstmals auch vor der Kamera mit ebensoviel Ironie wie Eitelkeit als Komödiant. (Gewiss: Für Vardas "Cléo de 5 à 7" (1961) hatte er auch schon einmal einen komödiantischen Auftritt hingelegt; dort fehlte aber freilich die Inszenierung des Filmemachers, der sich als närrischer Idiot der Bilder und Töne gibt.)
In seiner Director's Cut- und der Produzenten-Fassung ist "1+1" zusammen mit Richard Mordaunts sehenswerter Doku "Voices" (1968) bei Koch Media erschienen – erstmals vor 12 Jahren und vor drei Jahren neu aufgelegt: Fassungseintrag von SpeedyGonzales76


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