Tikhiye stranitsy (1994)
Wenn man sich Dostoevskys "Prestupléniye i nakazániye" (1866, Schuld und Sühne/Verbrechen und Strafe/Raskolnikow/Raskolnikoff) widmet, bleiben nicht zuletzt die vielen Treppenhaus-Szenen hängen. Der Roman liefert schon im zweiten Absatz eine solche, führt doch Raskolnikovs Weg aus seiner Stube auf die Straße durch das Treppenhaus aund am Zimmer seiner Wirtin vorbei, der er lieber aus dem Weg gehen möchte. Bei seinem Doppelmord ist ein Treppenhaus einer der zentralen Schauplätze. Und ganz am Ende, ein, zwei Seiten vor dem Epilog, trifft Raskolnikov seine Entscheidung zur Sühne auf der Treppe. Diese tragische, unruhige, fiebrige Hauptfigur scheint nie ganz bei sich zu sein, wird erst im Epilog geläutert ihren Platz finden...
Das mag im Roman bloß eine Nebensächlichkeit sein, in der Filmgeschichte seiner Verfilmungen fällt es dann jedoch ins Auge: Robert Wienes expressionistischer "Raskolnikow" (1923) entfaltet gerade während solcher Treppenhaus-Szene seine ganze expressionistische Stärke. Und auch die sowjetrussische Verfilmung aus dem Jahr 1969 findet in den Treppenhäusern ein paar ihrer faszinierendsten Bildkompositionen in einem stilistisch nicht allzu originellen Film.
Treppenhäuser sind Durchgangsorte und solche Orte liefern im Kino häufig Passagen: Momente, in denen das Ineinandergreifen der Bestandteile des Plots außer Kraft gesetzt wird, in denen der reinen Sichtbarkeit des Schlenderns wegen lediglich geschlendert wird. In seinem am 12. Februar 1994 uraufgeführten "Tikhiye stranitsy" machte Aleksandr Sokurov aus Dostoevskys Roman einen solchen Passagenfilm: Fast alle Nebenfiguren bleiben (bis auf Marmeladovs älteste Tochter) weitgehend unberücksichtigt, der Mord ist nie zu sehen, ein Plot nur noch schwer erkenntlich. In den raren Dialogszenen erfährt das Publikum jedoch, dass es hier Raskolnikov beim Umherwandeln zusieht...
Eine "richtige" Dostoevsky-Verfilmung will "Tikhiye stranitsy" allerdings auch gar nicht sein (wobei der fragmentarische Charakter auch den Produktionsbedingungen geschuldet war) – und kündigt auf seinen Buchseiten-Credits zu Beginn vielmehr einen von der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts inspirierten Film an. Die Nähe zu Dostoevskys Roman-Klassiker ist bloß am offensichtlichsten, es lassen sich aber auch kleinere Anleihen bei Gogol, bei Pushkin und bei Tolstoy entdecken.
Dementsprechend kryptisch ist der Film, der ohne wirklich greifbaren Plot bloß noch einen umgetriebenen Drifter zeigt, der durch eine morbide Umgebung geistert. Darin gleicht er seinem Vorgänger, dem nicht weniger kryptischen Chekhov-Film "Kamen" (1992). Das Publikum erfährt nach und nach nur: Hier hat jemand einen Mord begangen, möchte sich allerdings – obgleich er Raskolnikov ist – nicht der Polizei stellen. Keine Sühne steht hier am Ende, wenngleich das Ende dennoch wie ein Neuanfang anmutet.
Schaut man sich "Tikhiye stranitsy" an, fallen die vielen Verzerrungen und Verfremdungen auf, die Sokurov so extrem wie hier nur selten eingesetzt hat: Verblichene Farben, Sepia-Töne, s/w-Aufnahmen, die langsam Farbe gewinnen, Verzerrungen, dichte Nebelschwaden, eingebundene Gemälde und Fotos, über die gelegentlich sanfte Schwaden geistern. Der Zitat-Charakter, der in den Titeltafeln deutlich angesprochen wird, macht sich hier bemerkbar: "Tikhiye stranitsy" ist eine Collage, die ihre visuellen Motive verfremdet und zugleich "auf alt trimmt". Alles liegt weit zurück, wirkt wie ein teils elegischer, teils morbider Spuk der literarischen Figuren des 19. Jahrhunderts, die ohne ihre Plots bloß noch ihre Stimmungen, Atmosphären, Essenzen mit sich bringen. Und zugleich wirkt die Umgebung bisweilen wesentlich moderner, erinnert mitunter an Sowjet-Zeiten. Assoziativ rücken bisweilen die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ins Gedächtnis. Napoleon, auf den sich Tolstoy und Dostoevsky (und Raskolnikov) noch bezogen hatten, taucht hier gar nicht mehr auf; der Film weiß ja auch um all die Katastrophen, die noch kamen. Und so gibt es womöglich deshalb keine Sühne in Sokurovs Film: Weil sich zwar Raskolnikov selbst in Dostoyevskys Roman am Ende gewandelt zu haben scheint, weil aber die (von Raskolnikov angesprochenen) geduldeten, erlaubten, sogar ehrenhaften Verbrechen (etwa im Krieg) davon unberührt geblieben sind: "Sie morden Millionen von Menschen und denken, sie wären tugendhaft. Schurken!" Diese Äußerung Raskolnikovs gegen Filmende betrifft hier auch das (gelegentlich im Film anklingende) 20. Jahrhundert. Angesichts dieser großen Weltgeschichte konnte Sokurov die kleine Geschichte Raskolnikovs nicht mit der versöhnlich und zuversichtlich stimmenden Sühne enden lassen...
Mit seinem assoziationsreichen, essayistisch gefärbten, grüblerischen Charakter schaffte es der Film sogar in Jean-Luc Godards "Histoire(s) du cinéma: Les signes parmi nous" (1998). Zu dieser Zeit war Sokurov zumindest hierzulande kaum einem Cineasten ein Begriff: "Mat i syn" (1997) und "Molokh" (1999) hatten ihn erstmals einem noch recht kleinen Kreis nähergebracht, der sich erst mit "Russkiy kovcheg" (2002) gehörig ausweitete – und Kay Wenigers berüchtigtes "Personenlexikon des Films" schwieg sich noch 2001 über Sokurov aus, der im 21. Jahrhundert schließlich zu einem der beachtetsten, wenngleich nicht unumstrittenen Filmemacher Russlands avancierte.
Die Cinema Guild-Edition Sokurov. Early Masterworks bietet den Film neben weiteren Sokurovs und vielen Extras auf DVD und BluRay an. Allerdings ist bloß eine rund 70minütige Fassung enthalten, derweil im russischen Fernsehen meist eine 77minütige Version läuft, deren Einstellungen teilweise wesentlich länger andauern, auch wenn in diesen zusätzlichen Momenten nicht handlungsrelevantes geschieht, ja nicht einmal unbedingt Figuren zu sehen sind; diese noch wesentlich traumwandlerischere, unwirklichere Version ist der 70minütigen Version vorzuziehen, derzeit allerdings nicht auf DVD/BluRay zu erhalten, sodass man mit der Cinema Guild-Version (und ihrer immerhin vorzüglichen Bildqualität) Vorlieb nehmen muss: Fassungseintrag von PierrotLeFou
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