J'ai pas sommeil (1994)
Die 1946 geborene Filmemacherin Claire Denis inszenierte ihren ersten Spielfilm nach rund 15jähriger Regieassistenz bei Dusan Makawejew, Wim Wenders, Jim Jarmusch und anderen erst mit "Chocolat" (1988). Seitdem mauserte sie sich rasch zu einer der gefragtesten Autorenfilmerinnen der Gegenwart, die allerdings auch immer wieder mit ihren provozierenden Brüchen mit Erwartungshaltungen und Konventionen Teile des Publikums verärgerte: "Trouble Every Day" (2001) wurde etwa – gerade von jenen, die einen typischen Horrorthriller erwarteten – zunächst abgelehnt und sicherte sich erst nach und nach einige Bewunderer. Denis' Filme zeichnen sich aus durch offene, episodenhafte, fragmentarische oder mäandernde Dramaturgien und vereinnahmende Bilder, die seit dem am 18. Mai 1994 uraufgeführten "J'ai pas sommeil" zumeist von ihrer ebenfalls Wenders-erfahrenen Kamerafrau Agnès Godard eingefangen werden. Thematisch geht es oftmals um Identitäten: ums Fremdsein, Schwarzsein, Schwulsein, Frausein, aber auch grundsätzlich um Sehnsüchte und Beziehungen zu den Anderen. So politisiert das auch klingen mag, so zurückhaltend, unauffällig, ausgewogen und natürlich anmutend werden solche Themen von Denis ins Spiel gebracht: hier erweisen sich (neben dem Verzicht auf simple Statements) die offenen Dramaturgien als großer Vorteil, die von einem reinen Mainstreampublikum immer wieder verärgert zurückgewiesen werden. In "J'ai pas sommeil" sind es die von der Sharunas-Bartas-Partnerin Yekaterina Golubeva gespielte litauische Einwanderin Daiga, der schwule Travestie-Star Camille, der in einer Beziehungskrise steckt und an einen Umzug in die Heimat seiner Familie, Martinique, denkt, sowie natürlich all ihre Bekanntschaften, die Denis in eine geschickt verwobene Handlung integriert, welche sich keiner Spannungsdramaturgie beugt, sondern es auf den seit den Neorealisten immer wieder beschworenen Fluss des Lebens abgesehen hat. In Anlehnung an Thierry Paulin lässt Denis in der zweiten Hälfte des Films Camille und seinen Freund als (von Beginn an bloß in Radionachrichten und Zeitungsschlagzeilen auftauchende) Raubmörder agieren – nicht die einzig düstere Note des an der Oberfläche lange Zeit harmlos anmutenden Films –, was letztlich eine etwas größere Überschneidung der Schicksale seiner ProtagonistInnen mit sich bringt...
Die dramaturgische Offenheit, die zugleich eine Zurückweisung moralischer Fingerzeige und ideologisch eindeutiger Absichten mit sich bringt und eher an einer natürlichen Vielschichtigkeit & Zersplitterung, an einem natürlichen Nebeneinander & Unüberblickbarem interessiert ist, entfaltet wie stets bei Denis einen eigentümlichen Reiz, der man in dieser Form anderswo nur selten findet. Die einminütige Eingangssequenz mit den lauthals lachenden Helikopterpiloten der Nationalpolizei, die über Paris fliegen (und dann keine Rolle mehr spielen), stimmt auf die Eigenwilligkeit des Films und des denisschen Gesamtwerks bestens ein. Mit kleinen Stars des europäischen Autorenfilms wie Yekaterina Golubeva, Alex Descas und Beatrice Dalle lockt "J'ai pas sommeil" aufgeschlossene CineastInnen noch zusätzlich...
Auf DVD erschienen ist der Film hierzulande in der Edition Salzgeber (Fassungseintrag von PierrotLeFou), wenngleich diese Veröffentlichung vergriffen zu sein scheint und nicht nur noch selten günstig zu erhalten ist.
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