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von ratz

Vor 50 Jahren: Radikale Filmkunst aus Armenien

Stichwörter: 1960er Armenien Avantgarde Biographie Historienfilm Jubiläum Klassiker Mansurian Parajanov Religion Sowjetunion Spielfilm

Sayat nova (1969)

Der wohl erstaunlichste, weil formal radikalste und künstlerisch herausforderndste Film, der je aus der Sowjetunion kam, war nicht etwa ein Tarkowski, sondern „Die Farbe des Granatapfels“ von Sergej Paradschanow. Zwar war der Film, der eigentlich „Sayat Nova“ heißen sollte, nach seiner armenischen Premiere im Oktober 1969 nicht lange in den Kinos zu sehen, doch der Film fand über Festivals seinen Weg zum internationalen Publikum und ist heute ein weithin bewundertes Zeugnis des georgisch-armenischen Kinos sowie seines Schöpfers.

Das souveräne und zugleich unbändige Kunstwollen und die bedingungslos persönliche visuelle Handschrift, die Paradschanow seinem Sujet angedeihen läßt, rückt den rudimentären und fragmentarischen Plot von „Die Farbe des Granatapfels“ beinahe in den Hintergrund: es ist die Lebensgeschichte des Dichters und Sängers Sayat Nova, der im 18. Jahrhundert in Armenien wirkte und als Nationaldichter verehrt wird. Aus biographischen Elementen, aus der unerfüllten Liebe des Poeten zu einer Prinzessin und seinem anschließenden Rückzug ins Kloster, knüpft Paradschanow einen Teppich aus symbolisch aufgeladenen, allegorischen Bildtableaus, die in der Filmgeschichte nicht ihresgleichen haben. Sie sind durchdrungen von Motiven eines archaischen, armenischen Christentums mit seinen für den westlichen Zuschauer fremd wirkenden Bildwelten und Ritualen aus bäuerlicher Arbeit und religiöser Praxis. Die Tonspur fügt dem eine weitere Ebene hinzu: hier kombiniert der einflußreiche armenische Komponist Tigran Mansurian traditionelle Gesänge und Gedichte in armenischer, georgischer und aserbaidschanischer Sprache mit Gebeten, Glockenläuten und Klangeffekten – klassische Filmdialoge gibt es nicht. Dergestalt entsteht ein zeitenübergreifendes Gesamtkunstwerk aus Bild, Sprache und Musik, das nicht so sehr als Portrait einer Nation, sondern eines ethnischen Kulturraumes mit all seinen Querverbindungen und Widersprüchen funktioniert.

Mindestens ebenso schillernd wie der Film selbst war die Persönlichkeit ihres Schöpfers Sergei Paradschanow, der mit „Die Farbe des Granatapfels“ natürlich auch eine Künstlerbiographie und damit ein Selbstzeugnis vorlegte. Bekanntlich war die offizielle Kunstrichtlinie der Sowjetunion antiklerikal und am sozialistischen Realismus ausgerichtet, so daß ein Freigeist wie Paradschanow ständig in den Konflikt mit den Behörden kam. Daß ein derart hermetisches, religiös durchdrungenes Kunstwerk wie „Die Farbe des Granatapfels“ eigentlich keine Chance hatte, versteht sich beinahe von selbst, doch der charismatische Allroundkünstler Paradschanow hatte das Glück, im Regisseur Sergej Jutkewitsch einen einflußreichen Verehrer und Fürsprecher zu finden, der den Film zwar kürzte und leicht umschnitt, jedoch damit eine Kinoauswertung überhaupt möglich machte. Diese wechselvolle Geschichte von Künstler und Werk wird im Bonusmaterial der überaus empfehlenswerten Blu-ray-Ausgabe des britischen Labels Second Sight ausgiebig besprochen (Fassungseintrag). Hier finden sich denn auch beide Schnittfassungen des Films, der 2014 restauriert wurde und inzwischen als Meilenstein des armenischen Kinos anerkannt ist.


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