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von ratz

Vor 100 Jahren: die Sowjetunion träumt sich auf den Mars

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Aelita (1924)

Die russische Filmgeschichte der 1920er Jahre war vor den avantgardistischen „jungen Wilden“ Vertov, Eisenstein oder Pudovkin kein unbeschriebenes Blatt, wie am Beispiel des umtriebigen Regisseurs Yakov Protazanov in dieser Kolumne schon mehrfach gezeigt wurde (Anniversary-Texte zu „Pikovaya dama“, 1916, „Satana likuyushchiy“, 1917 und „Otets Sergiy“, 1918). Am 25. September 1924 brachte eben dieser Protazanov seinen heute wohl bekanntesten Film „Aelita“ heraus, dessen Wert nicht so sehr in seiner künstlerischen Geschlossenheit besteht, sondern in der Widerspiegelung der einzigartigen und teils widersprüchlichen Umstände, unter denen er entstanden ist.

„Aelita“ wird häufig als Science-Fiction-Film gehandelt, ist jedoch eher ein Hybrid aus Ehedrama, Komödie und Fantasyfilm. Die 1922 gegründete Sowjetunion befand sich nach dem ersten Weltkrieg, der Oktoberrevolution und dem Ende des Bürgerkrieges in einer tiefgreifenden Umbruchphase, die alle gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche umfaßte und sich in der inhaltlichen und formalen Heterogenität von „Aelita“ zeigt. So war der Autor Alexei Tolstoi nach einem ideologischen Sinneswandel eben erst aus der Emigration zurückgekehrt und hatte sich in seinem 1922 erschienen Roman „Aelita“ mit der Revolution auseinandergesetzt. Der Regisseur Protazanov blieb bei der Verfilmung seinem konventionellen Inszenierungsstil treu, den er schon zu Zeiten des Kaiserreichs gepflegt hatte. Die kontraststarken Bilder des deutschen Kameramanns Emil Schünemann bringen einen Hauch deutschen Expressionismus in die Szenen, die auf der Erde spielen. Ausgiebig und ungeschönt wird der schwierige und von Mangel geprägte sowjetrussische Alltag gezeigt, gelegentlich eingefügte dokumentarische Szenen verleihen ihm entsprechende Authentizität. Dagegen begründen die Marsszenen den heutigen Ruhm des Films: die hypermodernen, konstruktivistischen Kostüme der Künstlerin Alexandra Exter harmonieren mit einem extravaganten Bühnenbild und beeindrucken in ihrer schöpferischen Kühnheit. Yuliya Solntseva, die Darstellerin der Marsprinzessin Aelita, fasziniert durch ihre androgyne Ausstrahlung und ihr expressives Spiel (und wurde in späteren Jahren selbst zu einer bedeutenden Filmregisseurin). Unvermeidlich sind immer wieder propagandistische Elemente für den staatlich verordneten Kommunismus, allerdings sind sie durchaus ambivalent gehalten und können sowohl für als auch gegen diese Ideologie ausgelegt werden. Das war vielleicht auch der Grund, warum der Film trotz großen Publikumszuspruchs bald für Jahrzehnte von den russischen Kinoleinwänden verschwand.

Das deutsche Label Ostalgica hat „Aelita“ pünktlich zum Jubiläum als Blu-ray in einer lobenswerten Edition herausgebracht (Fassungseintrag), die nicht nur einen faktenreichen Audiokommentar enthält, sondern auch den kurzen Animationsfilm „Die interplanetare Revolution“ (1924), der als Parodie auf „Aelita“ gedacht war. Somit kann dieser Klassiker des russischen Kinos als einzigartiges Zeitdokument angemessen gewürdigt werden. Eine kurze Inhaltsangabe findet sich hier.



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