L'arroseur arrosé (1895)
Die Filme, die am Boulevard des Capucines im Salon Indien du Grand Café am 28. Dezember 1895 einem zahlenden Publikum vorgeführt worden, zählen zu den großen Klassikern des frühen Films und stehen gemeinsam mit Max Skladanowskys Wintergartenprogramm im November 1895 für die Geburtsstunde des Kinos. Zu ihnen gehörte unter anderem (der hier bereits am Tag der Arbeit besprochene) "Le sortie de L’usine" (1895), von dem die Lumières verschiedene Versionen anfertigen ließen (Anniversary-Text). Ähnlich verhält es sich auch mit "L'arroseur arrosé", bei welchem jedoch die Lage noch ein bisschen komplizierter ist, denn die fremden Kopien, die in Folgejahren noch hinzu kamen, fallen hier wesentlich umfangreicher aus...
Dem wohl im März 1895 entstandenen "L'arroseur arrosé" mit François Clerc und Benoît Duval in den Hauptrollen, den die Lumières am 28. Dezember 1895 öffentlich vorführten und den sie am 10. Juni 1895 bereits im Rahmen des Bulletin de la Société française de photographie gezeigt hatten, ließen die Lumières noch zwei Varianten folgen, die im Frühling und im Sommer 1896 entstanden und wohl 1897 erstmals vorgeführt worden waren. Diesen drei Filmen mit den Katalognummern 99,1-99,3 folgten dann eine Reihe von... Remakes? Plagiaten? Kopien? Hommagen?
Im frühen Filmbetrieb war es üblich, dass erfolgreiche Sujets, Plots und Motive von anderen Filmschaffenden übernommen worden sind. Ein Segundo de Chomón bediente sich bisweilen bei einem Georges Méliès ebenso wie ein Georges Méliès bei den Lumières... Mit dem narrativen Film ging dieses Phänomen besonders stark einher. Und "L'arroseur arrosé" gilt gemeinhin als Geburtsstunde des narrativen Films. Dann jedoch müsste man einen "Pauvre Pierrot" (1892) übersehen, wenn man ihn als Film einstufen möchte (wofür sehr viel spricht). Betrachtet man die Lumières vornehmlich als Dokumentarfilmer, so würde man vermutlich dazu neigen, "L'arroseur arrosé" als seltene Spielfilm-Ausnahme in ihrem Schaffen zu beschreiben. Schon Jean-Luc Godard machte in "La chinoise" (1967) darauf aufmerksam, dass solche Zuschreibungen gar nicht einmal so selbstverständlich sind und präsentierte entgegen der damals landläufigen Meinung die Lumières als die letzten Impressionisten und Méliès als Schöpfer von Nachrichten. Man kann im Grunde zweierlei unterscheiden: Spielen Akteure vor der Kamera ein Ereignis durch/nach? Oder sind sie ganz einfach sie selbst und sich im Idealfall der Kamera nicht bewusst? (Das ist die große Frage, die für das Cinéma vérité entscheidend werden sollte.) Und bei den Lumières ist immerhin selbst ein vermeintlich dokumentarischer "Le sortie de L’usine" gestellt; und selbst dort, wo sie öffentliche Ereignisse festhielten, winkten und lächelten nicht selten die festgehaltenen Personen in die Kamera. "L'arroseur arrosé" ist also nicht sonderlich viel gestellter und gespielter als manch andere Lumières. Eine andere Unterscheidungsmöglichkeit betrifft gewissermaßen die Ereigniskomplexität und deren Ordnung: Wird bloß eine nicht-gestellte Situation festgehalten (wobei manche Personen auf die Kamera reagieren können), die simpel, komplex-chaotisch oder (zufälligerweise) komplex-geordnet auffällt, oder wird eine kaum komplexe Situation wie das Verlassen eines Gebäudes gestellt? Oder wird eben eine komplexe Situation, die letztlich nach dramaturgisch sinnigen Gesetzmäßigkeiten abläuft und sich durch menschliche Interaktion auszeichnet, gestellt? Hier verlaufen Grenzen streng genommen fließend, aber man kann kaum leugnen, dass "L'arroseur arrosé" in seiner einzigen Einstellung etwas präsentiert, was eindeutig zum Spektrum des dramaturgisch komplexeren Films bis Ende 1895 gehört: Auf die Aktion einer Figur folgt ganz motiviert die Reaktion einer zweiten Figur, auf welche dann die erste Figur nochmals sehr zurückhaltend reagiert. Ein Lausbub nämlich unterbricht im rechten Bildvordergrund den Wasserfluss in einem Gartschlauch, worauf der gießende Gärtner im linken Bildvordergrund in dessen Düse schaut und – nachdem der Junge seinen Fuß wieder vom Schlauch nimmt – sein Gesicht bewässert. Daraufhin entdeckt der Begossene den Knaben und jagt dem Flüchtenden an den linken Bildrand im Mittelgrund nach, um ihn wieder in den Vordergrund zu ziehen und zu züchtigen. Dann fährt er mit seiner Arbeit fort und der Junge verlässt das Bild, nicht ohne sich kurz an die gezüchtigte Hinterbacke zu fassen. Und um die Mise-en-scène bzw. Mise-en-image besonders ausgefeilt erscheinen zu lassen, dreht sich der Junge kurz vor Verlassen des Bildes am rechten Bildrand noch einmal um die eigene Achse und schaut dabei in die Kamera.
Das ist handlungsmäßig wesentlich komplexer als zum Beispiel Edisons und Clarks "The Execution of Mary, Queen of Scots" (1895), in dem die Enthauptung der Schottenkönigin reinszeniert wird: auch eine Handlung, aber deutlich simpler.
Auf dem Gebiet des Realfilms – und der bereits genannte "Pauvre Pierrot" war immerhin ein Animationsfilm – präsentiert "L'arroseur arrosé" vor dem zeitgenössischen Hintergrund schon ein Maximum an Handlung, welche übrigens ihre Vorbilder nicht bloß im Alltag, sondern auch in Comicstrips der 1880er Jahre gefunden hatte. Damit war "L'arroseur arrosé" prädestiniert, als Blaupause für viele andere Filme zu dienen. Und so gesellten sich zu den bereits genannten zwei jüngeren Versionen der Lumières (deren zweite womöglich von Francis Doublier gedreht wurde) noch manch andere Streifen: der verschollene "L'arroseur" (1896) von Georges Méliès, James H. Whites "The Bad Boy and the Gardener" (1896), Birt Acres' "A Surrey Garden" (1896), "L’Arroseur arrosé" (1897/98) von Alice Guy, "A Practical Joke" (1898) von George Albert Smith, "The Biter Bit" (1899) von James Bamforth... (Eventuell handelt es sich bei Guys Version, in welcher der Junge seinerseits noch nassgespritzt wird, aber auch um die dritte Variante der Lumières: abweichende Jahreszahlen und Vielzahlen zusätzlicher Alternativtitel für einen jeden dieser Filme führen neben mancherlei Fehlinformationen und falschen Identifikationen dieser Filme auf diversen Streaming-Seiten zu einer doch recht großen Unsicherheit.) Hinzu kommen noch zahlreiche Kopien in späteren Slapstickkomödien der Stummfilmzeit der 10er und 20er Jahre – Charles Chaplin wollte den Gag schon 1914 in einer Kurzfilmkomödie unterbringen – sowie Anspielungen auf den längst ikonischen Klassiker der französischen Filmpioniere in zahlreichen Filmen der letzten jahrzehnte: Malcolm le Grices "After Lumière - L'arroseur arrosé" (1974) ist nur ein besonders prägnantes Beispiel für solch zusätzliche Zitationen des lumièrschen Klassikers aus der Ära des modernen Films.
Erhältlich ist das lumièrsche Original gemeinsam mit "The Biter Bit" (und fast 60 weiteren Filmen des frühen Kinos) in der DVD-Edition Early Cinema: Primitives and Pioneers vom BFI: Fassungseintrag von Cine-Phil
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