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von PierrotLeFou

Vor 125 (und 25) Jahren: Zeichentrickpionierwerk als Weltdokumentenerbe

Stichwörter: 1890er Animationsfilm Frankreich Jubiläum Klassiker Kurzfilm Reynaud Stummfilm Zeichentrick

Pauvre Pierrot (1892)

Die Frage nach dem Anfang ist immer schwer - so auch beim Film. Seine Vorgeschichte datieren besonders Wagemutige bis ins Jahr 130 zurück... oder gar bis 15000 v. Chr. Die entscheidenden Jahre wären 1895/96, als  die Lumières ihren ersten Film öffentlich projizieren, als die Skladanowskys ihr Wintergartenprogramm abhalten und als Méliès sein Théâtre Robert-Houdin eröffnet. Und doch gibt es auch zuvor einige Pioniere. William George Horners Zoeskop ab 1834, Muybridges Zoopraxiskop ab 1879, Reynauds Praxinoscope à projection ab 1880, Eastmans Fotoapparat-Rollfilm ab 1884, Le Princes Filmkamera ab 1886...
Reynaud kann indes derzeit sein 125. Filmjubiläum feiern, denn sein (schon 1876) als primitiveres Vorläufermodell angefertigtes Praxinoscope à projection konnte zunächst bloß eine kreislaufartige Bewegung von kurzer Dauer auf einen Schirm projizieren; seine Bewegungen glichen also denen des 1834er Zoeskops, ereigneten sich aber nun als Projektion auf weißem Stoff. 1889 konnte er dann bereits sein Théâtre Optique patentieren lassen, in welchem längere, nicht mehr kreislaufartig verlaufende Bewegungen auf eine erheblich größere Leinwand projiziert werden konnten. Am 28. Oktober 1892 war es dann soweit: Seine Pantomimes Illumineuses sind dank seines Théâtre Optique im Pariser Musée Grévin zu sehen; frühe Zeichentrick-Werke auf Leinwand vor einem größeren Publikum. Wer die Filmgeschichte auch als Animationsfilmgeschichte betrachtet, muss bei der Nennung der entscheidenden Jahre 1895/96 also zumindest auch das Jahr 1892 angeben - denn abgesehen von dem Umstand, dass keine Realaufnahmen, sondern gezeichnete Aufnahmen projiziert worden waren, unterschied sich Reynauds Théâtre Optique kaum weiter vom Wintergartenprogramm oder dem Théâtre Robert-Houdin: bloß das spätere Filmmaterial verwendete er nicht, sondern bemalte Plättchen, die in ein aufrollbares Band intergriert worden waren.

"Pauvre Pierrot" war einer der Filme, welche Reynaud ab dem 28. Oktober 1992 - und bis in den Februar 1900 hinein - aufgeführt hatte. Es ist neben dem jüngeren "Autour d'une cabine" (1894) sein einzig erhaltener Animationsfilm geblieben. Den schmerzlichen Verlust verdankt die Nachwelt Reynaud selbst, welcher aus Verzweiflung über den Erfolg des Kinematografen, mit welchem seine Zeichentrickfilm-Technik nicht konkurrieren konnte, zunächst einen Teil seiner Apparate zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Materialwert verkauft hat. 1907 erfindet er noch nach vierjähriger Arbeit das stéréo-cinéma, mit welchem er 3D-Effekte zu erzielen versteht; aber auch damit ist ihm kein neuerlicher Durchbruch mehr vergönnt: In den frühen 10er Jahren wird er dann - inzwischen mittellos - seine Filme beinahe vollständig in die Seine kippen: Es ist gewissermaßen die völlige Vernichtung eines Lebenswerkes. Im Frühjahr 1917 erleidet er schließlich ein unheilbares Lungenleiden. Ein knappes Jahr liegt er im Hospiz; am 19. Januar 1918 stirbt er schließlich, von der fleißig boomenden Filmwelt völlig vergessen. Er ist 73 Jahre alt und hinterlässt zwei Söhne.
Im Jahre 1992 erlebte dann - zum 100. Jubiläum des Théâtre Optique - der restaurierte "Pauvre Pierrot" seine Wiederaufführung. Auch "Autour d'une cabine" wird wieder in Umlauf gebracht. 74 Jahre nach Reynauds Tod werden die letzten Reste seines Lebenswerkes (darunter auch kürzeste Fragmente seiner anderen Filme) wieder zugänglich gemacht und ihr Schöpfer kommt postum zu neuen Ehren. Und jüngst, im Jahr 2015, werden beide Zeichentrickpionierwerke Reynauds ins Weltdokumentenerbe aufgenommen.


Kommentare und Diskussionen

  1. PierrotLeFou sagt:

    Wenn das aktuelle Wochenende schon eine Stunde länger ist, quetsche ich schnell noch ein Pionierwerk des Films rein, das auf den Tag genau vor 125 Jahren uraufgeführt worden war. (Ab 2020 würden 1890er-Titel dann vermehrt auftauchen…)

    Montag geht es dann fast normal weiter – wobei bereits am Dienstag wieder eine zusätzliche, wohlig-gruselige Perle zur Halloween-Nacht eingeschoben wird… (Der Reformationstag hat hingegen das Nachsehen…)

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