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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Reichhaltiger Klassiker von Dusan Makavejev

Stichwörter: 1970er Curtis Deutschland Dokumentarfilm Erotik Essayfilm Jubiläum Jugoslawien Klassiker Komödie Makavejev Reich Sex Sexuelle-Revolution Spielfilm

WR - Misterije organizma (1971)

WR: Wilhelm Reich. Gerade erst wurde Reichs ultimativer Klassiker als "Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933" (2020) im Gießener Psychosozial-Verlag neu aufgelegt. Reich prägte – geächtet von den Nationalsozialisten, von Teilen der Kommunisten sowie von den Anti-Kommunisten der McCarthy-Ära – die 68er-Bewegung erheblich, prägte die Linke der 70er, 80er und 90er Jahre, ist noch immer von Belang. Dabei werden seine seit 1968 populären Thesen zum Faschismus womöglich eine Spur kritischer beleuchtet. Und vor allem Reichs Haltung zur Homosexualität – oder vielmehr: zu den Schwulen – wird heutzutage mit erhöhtem Problembewusstsein wahrgenommen. Denn Reich riet aus moralischen wie "sexualökonomischen" Gründen von der Homosexualität ab und empfahl den rechten – den heterosexuellen – Weg. Seine Texte zu schwulen Jugendlichen lesen sich teils abenteuerlich; immerhin: die Verachtung oder Bekämpfung Homosexueller brandmarkte Reich bisweilen auch explizit als falsche Vorgehensweisen und Haltungen. Streitbar bleiben dennoch Reichs Thesen von einer Bedingung zwischen Homosexualität und Faschismus... Die Filmkultur ab 1968 profitierte von dieser These enorm, als aus dem effeminierten Nazi in Rossellinis "Roma, città aperta" (1945) Jahre später die deutlicheren homoerotischen/homosexuellen Aspekte in "La caduta degli dei" (1969) der (homosexuellen) Regielegende Luchino Visconti entstanden waren, die sodann allerlei Sadiconazista durchzogen. Aber en vogue war Reich in der 68er-Bewegung (auch) aus anderen Gründen. In seiner verqueren "sexualökonomischen" Argumentation gegen die Homosexualität mag eine Ahnung dieser Qualitäten aufscheinen: das Interesse für die Befriedigung und Erfüllung, welches seine Theorien des Orgasmus und der "orgastischen" (Im)potenz oder auch die Gründung der Sexpol, der proletarischen Sexualpolitik, samt sexualaufklärerischen Anliegens. Diese Vorstufe sexueller Revolution zwischen Psychoanalyse und Marxismus erfuhr mit der sexuellen Revolution der '68er eine Neubewertung – auch wenn Reich etwa mit seiner kaum wirkmächtigen Orgontherapie als Pseudowissenschaftler galt und gilt.
Dusan Makavejev lässt sich – 1932 geboren – nicht unbedingt der '68er-Generation selbst zurechnen, die man gemeinhin zwischen den Geburtsjahren 1940 und 1950 verortet, aber er gehörte zu den einflussreichen Figuren der 68er-Bewegung: Schon in "Covek nije tica" (1965, Der Mesch ist kein Vogel) und "Ljubavni slucaj ili tragedija sluzbenice P.T.T." (1967, Ein Liebesfall) nahm das Liebesleben eine wichtige Stellung in seinen Filmen ein – und das war noch in "Montenegro" (1981, Die Ballade von Lucy Jordan) so. Seine Klassiker der filmischen sexuellen Revolution waren allerdings der im Mai 1971 in Frankreich und Jugoslawien erstmals gezeigte und im Juni 1971 auf der Berlinale gelaufene "WR - Misterije organizma" sowie der noch wesentlich spannendere "Sweet Movie" (1974); angereichert noch um die Episode "Politfuck" für den Omnibusfilm "Wet Dreams" (1974). "WR - Misterije organizma" – besetzt unter anderem mit dem queeren Warhol-Superstar Jackie Curtis – erzählt die Liebesgeschichte zwischen einer Jugoslawin und einem Russen, legt Reichs Studien zur Repression (der Sexualität) dar und geht ebenfalls auf die Orgon-Theorie Reichs ein. In einem Mix aus Spiels-, Dokumentar- und Essayfilmsequenzen ist "WR - Misterije organizma" damit so radikal filmische sexuelle Revolution wie wenig andere Filme jener in dieser Hinsicht doch eigentlich äußerst fruchtbaren Phase. Heute kann man sich daran stören, dass Reich – dessen Homophobie so gar nicht zur sexuellen Revolution der '68er passen mag – nicht auch kritischer thematisiert wird; und auch in Sachen Dynamik, Verspieltheit und Unterhaltungswert reicht "WR - Misterije organizma" nicht an Makavejevs späteren "Sweet Movie" heran. Dennoch bleibt dieses deutsch-jugoslawische (und in Jugoslawien schnell zensierte) Klassiker des erotischen Kinos ein Werk, das mehr ist als nur ein Zeitdokument...
Und noch immer lohnt sich der Griff zur betagten Criterion-DVD: Fassungseintrag von sarkhosh


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