Beitrag

von PierrotLeFou

Vor 25 Jahren: Meisterhaftes Spätwerk von Jacques Rivette

Stichwörter: 1990er Balzac Béart Birkin Bonitzer Drama Erotik Frankreich Jubiläum Klassiker Laurent Literaturverfilmung Piccoli Rivette Schweiz Spielfilm

La belle noiseuse (1991)

Vor nicht ganz drei Monaten ist Jacques Rivette 87jährig verstorben - ein herber Verlust für die Filmwelt, wenngleich er sich vom Filmemachen bereits 2009 zurückgezogen hatte, nachdem er mit "36 vues du Pic Saint-Loup" einen kleinen, aber feinen Abschiedsfilm hingelegt hatte, welcher mit gerade einmal 85 Minuten so kurz ausgefallen ist wie kein anderer seiner Langfilme ab 1960. Die Länge der Filme fällt sicherlich als erstes ins Auge, wenn man auf Rivettes Schaffen blickt; nach vier Kurzfilmen ab 1949 - von welchen bloß noch der vierte ("Le coup du berger" (1956)) erhalten geblieben ist, derweil die stumm und auf 16mm gedrehten, teilweise mit der Beteiligung Jean-Luc Godards entstandenen Erstlinge verschollen zu sein scheinen - legte er mit dem mysteriösen "Paris nous appartient" (1960) sein 2½stündiges Langfilmdebüt vor, das bereits die wesentlichen, rivetteschen Charakteristika enthielt: das Theater, die mysteriösen Geschehnisse und die undurchsichtige Verschwörung. Im Gegensatz zum Kurzfilm "Le coup du berger", der als einer der Grundpfeiler der Nouvelle Vague gewertet wird, kam das von Finanzierungsproblemen geplagte Langfilmdebüt weniger gut an, wenngleich es heute als bedeutender Nouvelle Vague-Klassiker gilt. Mit seinem zweiten Langfilm, der in Frankreich zunächst verbotenen Diderot-Verfilmung "La Religieuse" (1966), konnte er dann allerdings einen beachtlichen Zensurskandal & Skandalerfolg erzielen und somit an Popularität gewinnen. Es folgten einige Jean Renoir-Dokus, ehe Rivette 1969 schließlich wieder zur Dramaturgie und Stilistik seines ersten Langfilms zurückkehrte, dabei jedoch eine neue Vorgehensweise ausprobierte, von der er nie mehr völlig loslassen sollte: der vierstündige "Amour Fou" handelt erneut vom Theater und radikalisiert zugleich Rivettes Vorliebe für das Improvisieren und das Abrücken von festen Drehbüchern ganz enorm. Berüchtigt ist sein in engster Zusammenarbeit mit den Schauspieler(inne)n entstandener "Out 1, noli me tangere" (1971), der seine vielen Figuren 13 Stunden lang zwischen verschiedenen Theatertruppen und Intrigen und Verschwörungen herumtappsen lässt; selbst die Kurzversion läuft noch immer stattliche vier Stunden. Mit den etwa dreistündigen Werken "Céline et Julie vont en bateau" (1974) - ebenfalls weitestgehend improvisiert! -, "Haut bas fragile" (1995), "Secret défense" (1998) und dem 5½stündigen Jeanne D'Arc-Zweiteiler "Jeanne la Pucelle" (1994) nahm Rivette auch später keine größere Rücksicht auf die Strapazierfähigkeit eines Massenpublikums. Der Regisseur, der selber in seiner Freizeit bis zu 12 Stunden in Kinos verbrachte, machte Filme gewissermaßen für Gleichgesinnte. Und Rivette-Liebhaber wissen seine entspannte Leichtigkeit, die trotz gelegentlicher Düsternis und bedeutsamer Themen durch seine Werke läuft, zu schätzen: Herausragende Darstellerleistungen und ein Blick auf Details und die kleinen Nebensächlichkeiten, die bei Rivette nie durch eine effiziente Dramaturgie an den Rand gedrängt werden, zählen fraglos zu Rivettes Vorzügen... auch in seinen auf Literaturvorlagen zurückgehenden Werken, auch in seinem den Drehbüchern wieder etwas mehr (unverbindlichen) Raum gebenden Spätwerk ab Anfang/Mitte der 80er Jahre gilt das noch: Bei Rivette gibt es kaum jemals einen roten Faden; eher ein Wollknäuel oder am besten gleich eine verschwommene Pfütze...

Auch der im Mai 1991 auf dem Cannes Filmfestival uraufgeführte "La belle noiseuse" (1991) reiht sich mit seiner entspannten Dramaturgie und ganzen vier Stunden Laufzeit in diese Werke ein: Jane Birkin, Emmanuelle Béart und Michel Piccoli tummeln sich in diesem an Balzac angelehnten Mammutprojekt, in dem ein gealterter Maler sich wieder an sein unvollendetes Meisterwerk macht. Aber nicht seine Partnerin soll wie früher Modell stehen, sondern die junge Frau eines anderen Mannes. Und einen Käufer gibt es ebenfalls bereits... Es geht durchaus um Macht in dieser Körperpolitik-Geschichte um Maler und Muse (und Käufer), um sich subtil wandelnde Beziehungsgefüge; um Beziehungstiefpunkte und Lichtblicke. Das von Pascal Bonitzer, Christine Laurent und Jacques Rivette selbst geschriebene Drehbuch ließ noch immer Platz genug für spontane Einfälle: Die Hand des Künstlers Bernard Dufour, die hier anstelle von Piccolis Hand mehrfach in langen Großaufnahmen skizziert, zeichnet und malt, gehorcht ohnehin nur sich selbst... Vor allem die für das Fernsehen produzierte Kurzfassung "La Belle noiseuse. Divertimento", die sich zum Großteil aus alternativen Takes zusammensetzt, macht bereits im Titel auf ihre Freiheiten aufmerksam. Vorzuziehen ist aber fraglos die intensivere Langfassung. Piccoli, für den die Zusammenarbeit mit dem bewunderten Rivette einen Höhepunkt seiner Karriere darstellte, darf hier die ganze Palette seines Könnens darbieten. Und Rivette, der für diesen Film den Grand Prix du Jury in Cannes erhielt, hat hiermit sicherlich eines seiner größten Meisterwerke abgeliefert - vielleicht sein größtes... Kritik und Publikum waren überaus angetan von diesem Werk, das mit Béarts Nacktheit zudem einige Aufmerksamkeit zusätzlich auf sich ziehen konnte. Und der Erfolg verhalf Rivette schließlich dazu, sein Jeanne D'Arc-Projekt in Angriff nehmen zu können. Mit "La belle noiseuse" hat er den - neben Tarrs siebenstündigen "Sátántangó" (1994) und Angelopoulos' dreistündigen "To vlemma tou Odyssea" (1995) - wohl ambitioniertesten Film der Dekade abgeliefert: Ein ganz großer Wurf...
Die empfehlenswerte Edition Jacques Rivette von Al!ve bietet beide Versionen des Films mit zwei weiteren Rivettes und einem Nachdruck der Nr. 5 (Mai 1994) des Magazins du - Die Zeitschrift der Kultur (mit dem Titel "Der Widerspenstige. Cinéaste Jacques Rivette") in einer schönen Ausgabe an, die inzwischen allerdings vergriffen ist: Fassungseintrag von Mirco


Kommentare und Diskussionen

  1. Noch keine Kommentare vorhanden

Um Kommentare schreiben zu können, müssen Sie eingeloggt sein.

Registrieren/Einloggen im User-Center

Details
Ähnliche Filme