The Stranger (1946)
Über das Wunderkind Orson Welles, seine Kämpfe mit der US-Filmindustrie und sein europäisches Exil ist schon unüberschaubar viel geschrieben worden, doch dabei wird gelegentlich übersehen, daß Welles sehr wohl dazu in der Lage war, innerhalb von Zeit- und Budgetvorgaben einen publikumswirksamen und vor allem finanziell erfolgreichen Film fertigzustellen – wenn er denn wollte. „The Stranger“, der am 2. Juli 1946 in die Kinos kam, war Welles‘ Versuch, sein Image als schwieriger Autorenfilmer abzulegen, weshalb der Film lange im Schatten der berühmteren Welles-Filme wie „Citizen Kane“ (1941, Anniversary-Text) oder der späteren Thriller „The Lady from Shanghai“ (1947) und „Touch of Evil“ (1958) stand.
Vor allem bekommt Welles mit „The Stranger“ erstmalig die Gelegenheit, einen treibenden Plot mit Suspense und tagesaktueller Bedeutung zu konstruieren. Als glühender Liberaler hatte Welles aus seiner Gesinnung nie einen Hehl gemacht und sich unter anderem in politischen Radiosendungen für die Demokratie ausgesprochen. In „The Stranger“ spielt er selbst den gefährlichen Anti-Humanisten bzw. aus Deutschland geflohenen Nazi und Kriegsverbrecher, der sich im Schutz seiner liberalen Umgebung in Form der prototypischen amerikanischen Kleinstadt auf einen nächsten Krieg vorbereitet. Dabei schreckt er nicht davor zurück, zu morden und seine unwissende Ehefrau (Loretta Young) zu belügen, ja diese sogar zu gefährden, um seinem Verfolger (Edward G. Robinson) zu entkommen. Bei der Verfilmung des Drehbuchs, das bereits durch mehrere Hände gegangen war (auch John Huston hatte daran mitgearbeitet), konnte Welles viele seiner Vorstellungen umsetzen und ästhetische Akzente setzen – lange Takes mit aufwendigen Kamerafahrten, frappierende Großaufnahmen, ungewöhnliche Perspektiven, starke Hell-Dunkel-Kontraste – doch auf den finalen Schnitt hatte er keinen Einfluß mehr. Nach Welles‘ späteren Aussagen fehlen im fertigen Film mindestens 20 Minuten, vor allem vom Beginn, und auch im weiteren Verlauf lassen sich Hinweise finden, daß durch die Produzenten entgegen den Vorstellungen des Autors und Regisseurs eingegriffen wurde. Trotz dieser Beeinträchtigungen ist „The Stranger“ ein packender Nachkriegsthriller weit über dem Durchschnitt, der Stilelemente des Film Noir und des Gothic Melodrama in sich vereint und hinter keinem zeitgenössischen Werk etwa eines Alfred Hitchcock zurückstehen muß („The Stranger“ wird gelegentlich mit „Notorious“ aus demselben Jahr verglichen).
Vermutlich hat es auch diese Nähe zum inzwischen sprichwörtlichen Meister des Suspense bewirkt, daß „The Stranger“ ausgerechnet in einer Hitchcock-DVD-Box bei uns erschienen ist (Fassungseintrag). Es mag aber auch eine Rolle spielen, daß Welles‘ Film nicht im Besitz eines der großen Studios ist, sondern 1973 in die Gemeinfreiheit fiel und seitdem immer wieder in meist schlechten Fassungen veröffentlicht wurde (das Original-Kameranegativ ist verloren). Glücklicherweise blieb eine akzeptable Kopie von „The Stranger“ in der Library of Congress erhalten und wurde 2013 in den USA als Blu-ray mit wertvollen Begleitmaterialien veröffentlicht (Fassungseintrag). Die kurze OFDb-Kritik von DasNetz_InDir geht noch etwas genauer auf die psychologischen Hintergründe der Filmcharaktere ein.
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