Blue (1993)
In der Literaturgeschichte stellt der Blinde seit eh und je einen populären Topos dar – auf der Kinoleinwand war er dementsprechend früh anwesend. Aber mehr noch als seine literatur-/kulturhistorische Tradition gerieten im filmischen Medium schon früh die Blindheit selbst und die Einfühlung in ebendiese zum entscheidenden Moment: Neben dem Motiv des Auges – von Buñuel über Fulci, von Vertov über Marker – gehört der (Gesichts-)Sinnes- und Informationsverlust bis heute zu jenen Motiven, welche das Innerste des filmischen Mediums erfassen und vermitteln. Im frühen Kulturfilm & Dokudrama "Vom Reiche der sechs Punkte" (1927) wird noch von außen ein Blick auf die Blindheit geworfen: Aber in Stefan Uhers "Poznacení tmou" (1959, Marked by Darkness) wird bereits der Schwärze Raum geboten, um das Publikum in die Rolle erblindeter und blinder Schulkinder zu versetzen. Werner Herzog konfrontiert das Publikum von "Land des Schweigens und der Dunkelheit" (1971) ebenfalls mit Schwärze, derweil die taubblinde Fini Straubinger von ihren Erinnerungsbildern berichtet, ehe diese dann auch visualisiert werden. Mit verschwommenen, unscharfen Bildern nähert sich Arthur Penn in "The Miracle Worker" (1962) den Erinnerungsbildern der sehbehinderten Lehrerin der taub-blinden Helen Keller an. Einen Blindheit verursachenden Stich ins Auge überführt ein Exploitationfilm wie "Hexen bis aufs Blut gequält" (1970) in einen blutroten, abstrakten Farbrausch. Im Experimentalfilm taucht diese Abwesenheit von Bildern oder deren Verschwimmen bzw. deren Abstrahierung ins Nicht-Gegenständliche immer wieder auf: Das Publikum schaut zu, ohne Etwas zu sehen – das Filmbild reizt zur Schau nach innen oder zur Schau von Allem, welche den blinden Sehern so oft unterstellt wird. ("The Flicker" (1965) etwa verursachte mit seinen raschen Wechseln schwarzer und weißer frames Einbildungen beim Publikum.) Der vollkommen bildlose Film ist dagegen ziemlich selten und weitgehend auf die experimentalfilmtypische Form des Kurzfilms beschränkt: "L'Àpat" (1967) des Musikers Carles Santos zeigt etwa bloß ein weißes Bild und damit die Leinwand selbst, auf welche das Publikum blickend seine Vorstellungsbilder projizieren kann, derweil Klänge eines Picknicks zu hören sind. Walter Ruttmann liefert mit "Weekend" (1930) hingegen ein reines Schwarzbild mit einer Tonmontage ab: im Kino lief der Film ebenso wie auch im Radio.
In die Reihe solch radikaler Werke gehört auch der am 3. Oktober uraufgeführte "Blue". Regisseur Derek Jarman war mittlerweile infolge seiner HIV-Erkrankung erblindet, sein AIDS-Tod im Februar 1994 war nahe. "Blue" ist gewissermaßen sein filmisches Testament, das knapp 80 Minuten lang ausschließlich aus einem blauen Bild ohne Helligkeits- oder Farbveränderungen besteht. Gleich zu Beginn berichtet Jarman inmitten eines dichten Klangteppichs von blauen Lichtblitzen während der Untersuchungen beim Augenarzt, assoziativ kommt er auf das Blau des Himmels und der See zu sprechen: Das Blau, das während seiner Erblindung zunehmend zur einzigen Gesichtssinneswahrnehmung geriet, taucht im Kommentar immer wieder auf, mal bedrohlich, mal befreiend. Der Kommentar, von Jarman, Nigel Terry, Tilda Swinton und John Quentin gesprochen, gibt sich immer wieder assoziativen Abschweifungen hin, mixt Fantasie, Erinnerungen und Beschreibungen der gegenwärtigen Situation, berichtet von Arztbesuchen, vom AIDS-Tod seiner Freunde, von Ungewissheit und Angst, vom Umgang mit Schwulen, vom lukrativen und prestigeträchtigen Geschäft mit der Wohltätigkeit, von geselligen oder intimen Augenblicken und liefert an der Schwelle zum Tod einen Rückblick auf die Dinge und Widrigkeiten des Lebens, der Sehnsucht, Angst und Alltäglichkeit verschmilzt. Es ist ein äußerst intimer, intensiver Film geworden, tieftraurig und lebensbejahend zugleich...
Bei Salzgeber liegt dieses Abschiedswerk in einer schönen, allerdings auch relativ kostenspieligen Ausgabe auf DVD vor: Fassungseintrag von Peter Leisetreter
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