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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Einst gefeierter ‘Novi film’-Klassiker

Stichwörter: 1960er Djordjevic Drama Historienfilm Jubiläum Jugo-Trilogie Jugoslawien Katarina Klassiker Krieg novi-film Samardzic Spielfilm Tetralogie Trilogie Zivojinovic

San (1966)

„Zwei kleine Städte, die sich wegen Fußball hassten, träumten 1941 den Traum der ganzen Welt. Die kleinen serbischen Städte Čačak und Užice waren im Oktober und November frei. Im Oktober und November 1941 war die Deutsche Wehrmacht vor Moskau. Leningrad war abgeschnitten. London lag unter Bomben. Athen gab es nicht. Paris war besetzt. Budapest, Bukarest und Sofia waren Übernachtungsstätten deutscher Truppen. Tirana war taub. Der Traum der Kommunistischen Partei Jugoslawiens wurde zum ersten Mal auf den Straßen ?a?aks und Užices Wirklichkeit.“

Mit diesen Worten eröffnet Mladomir „Puriša“ Đorđević (Buch und Regie) seinen Film „Ein serbischer Traum“ (Orig. „San“), der in Westeuropa bis dato als erfolgreichster Film des jugoslawischen „Novi film“ Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts galt. Am 14. Juli 1966 erlebte er seine Erstaufführung; 1967 ging er unter dem Titel „Der Traum“ bei den 17. Internationalen Filmfestspielen in Berlin an den Start, welche im Schatten der Studentenunruhen nach dem Tod Benno Ohnesorgs standen. Obwohl er gute Kritiken erhielt, konnte er sich gegen seine starke Konkurrenz nicht durchsetzen. Der silberne Bär ging  in dem Jahr an den jugoslawischen Film „Das Erwachen der Ratten“ (Orig. „Buđenje pacova“, Int. „The Rats Woke Up“, Regie: Živojin Pavlović), die goldene Trophäe errang der belgische Beitrag „Der Start“ (Orig. „Le départ“, Regie: Jerzy Skolimovsky).

„San“ war einer von Purišas Beiträgen zu seiner Vergangenheitsbewältigung. Es war der zweite Film seiner „Jugo-Trilogie“, welche er später um einen vierten Film erweiterte. Um den Inhalt des Films zu verstehen, muss man sich unweigerlich erst der Frage stellen: „Was ist Novi film?“. „Novi film“ (serbokroatisch für „Neuer Film“) ist eine Welle der kritischen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus, dem Regime und der eigenen Landesgeschichte, die in der Literatur bereits 1958 ihren Anfang nahm und 1961 auch den Film erreichte. Diese Ausdrucksform, später auch „Crni talas“ (serbokroatisch für „Schwarze Welle“) genannt, wurde in Westeuropa als Filmkunst des „demokratischen Sozialismus“ bekannt. Die Welle eroberte schnell das ganze Land und wurde in allen sechs Republiken und den zwei autonomen Provinzen thematisch in Angriff genommen. Während in der Literatur und unter den Intellektuellen die herrschaftskritische Thematik Vorrang genoss, etablierte sich im Filmwesen eine allumfassende Auseinandersetzung aller Tabu-Themen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Der „Novi film“ übte neben Regimekritik auch Sozialkritik, machte auf die Korruption aufmerksam und beleuchtete sämtliche Sozialismusbilder kritisch, allen voran den Stalinismus, dem Jugoslawien mit dem Titoismus endgültig 1948 den Rücken kehrte. Der Bruch mit Stalin, der zum Ausschluss aus der Kominform führte, drohte 1949 in einem sowjetisch-jugoslawischen Krieg zu münden, als Stalin seine Rote Armee in seinen Sattelitenstaaten an die Grenzen Jugoslawiens in Position brachte. Der Konflikt entschärfte sich erst 1953 mit Stalins Tod. Nur Dank Josip Bros Titos „blockfreier Politik“ und den guten diplomatischen Beziehungen mit den USA, eskalierte der Konflikt nicht. Dennoch wurde eine Furche ins politische Jugoslawien geschlagen. Während die Bevölkerung in Furcht vor einem weiteren Krieg lebte, musste sich Belgrad gegen die Sympathisanten des Stalinismus wehren. Auch Puriša behandelte dieses Thema in seinem vierten Trilogie-Film. Filmisch gesehen war in den 1960ern der Antikriegsfilm immer noch ein sehr populäres Genre, welches mit der „Schwarzen Welle“ seinen Neuansatz erfuhr. Diesmal wurden den Partisanenfilmen die heroischen Federn gerupft und moderner Lyrismus eingehaucht. Die bis dahin populären Schemata und patriotischen Idealisierungen wurden über den Haufen geworfen und in poetischer Form neu angeordnet.

Genau das waren die Themen, die auch Mladomir Đorđević beschäftigten. Er wurde 1924 in Čačak geboren, eine der Städte, die in seinen Filmen immer wieder den Hintergrund seiner Geschichten bildet und unter der Nazi-Besatzung stark gelitten hat. Nach seinem Kunst- und Geschichtsstudium widmete er sich bereits 1947 dem Filmemachen. Seine Trilogie widmete er dem Enthusiasmus seiner Generation, den jungen Menschen, die täglich dem Tod ins Auge sahen und sich nach dem Krieg ganz neuen, nicht minder gefährlichen Konfrontationen stellen mussten. Sein fast schon episches Werk umfasst „Das Mädchen“ (Orig. „Devojka“, 1965), welches sein Hauptaugenmerk auf den Krieg und seine Beteiligten wirft, erzählt durch die Liebesgeschichte eines Jungens und eines Mädchens, die als Partisanen kämpfen. In „Ein serbischer Traum“ (Orig. „San“, 1966) befasst sich Puriša mit den 67 Tagen der Užicer Republik, wie bereits im einleitenden Text deutlich wurde und gleich noch näher beleuchtet wird. „Ein serbischer Morgen“ (Orig. „Jutro“, 1967) betrachtet die Ereignisse in den letzten Kriegs- und ersten Friedenstagen, als ein neuer „Morgen“ für das befreite Land beginnt. An dieser Stelle angekommen muss Đorđević gemerkt haben, dass ein wichtiges Thema kinematografisch noch nicht erfasst wurde, die Konfrontation mit der Sowjetunion und die Etablierung des Titoismus. So schuf er auch noch „Ein serbischer Mittag“ (Orig. „Podne“, 1968), mit dem er seine Trilogie auf vier Filme erweiterte. Und obwohl „San“ in Westeuropa die meiste Aufmerksamkeit erregte (trotz Berlinale-Pleite), hatte auf dem Balkan „Jutro“ die Nase vorn, weshalb er auch mit der „Goldenen Arena“ der Filmfestspiele in Pula ausgezeichnet wurde. Puriša selbst wurde 2012 in Serbien für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Inhalt: Oktober 1941, die Städte Užice und Čačak wurden von den deutschen Besatzern befreit. Während die Tschetniks alle Fronten verlassen haben, marschieren die Partisanen voran. Die junge Partisanin, im Film einfach nur Devojka (serbokroat. Mädchen) genannt (Olivera Katarina damals Vučo), träumt von einer besseren Welt. Einer Welt in Freiheit und Frieden, in der sie mit ihrem Geliebten Dečak (serbokroat. Junge, gespielt von Miša Janketić) alt werden und ihre Kinder aufwachsen sehen kann. Dečak, der den Partisanen nur wegen Devojka beigetreten ist, sieht seinen Traum als erfüllt, solange die beiden zusammen sind. Ihr Weg führt sie geradewegs in die nächstgelegene Stadt Kraljevo, die es als nächstes zu befreien gilt. Der Plan, einen deutschen Soldaten gefangen zu nehmen und nach der Truppenstärke zu befragen, schlägt fehl. Dečak bezahlt dafür mit seinem Leben. Hin- und hergerissen von ihren Gefühlen und Gedanken, muss sie sich weiterhin dem Kampf stellen. Sie sucht Rat bei ihrem Vater Mile „Grk“ (Ljuba Tadić), der die Partisanen bislang unterstützt hat, doch jetzt in den Fokus geraten ist. Er würde Weizen unterschlagen und sich an der Not der Bevölkerung bereichern. Dafür droht ihm die Erschießung. Tatsächlich hat sich seine Sicht auf den Krieg geändert. Sein Traum zerbricht und die jungen Menschen sterben dahin, anstatt ihr Leben zu leben. Währenddessen wird Mali (serbokroat. Kleiner, gespielt von Ljubiša Samardžić) vom Partisanen-Helden Lazar Popović (Velimir Živojinović) mit einem deutschen Panzer aufgesammelt, den die Soldaten feststeckend in einem Feld zurückgelassen haben. Malis Traum ist es Schuster zu werden, Lazar träumt von der vollkommenen Befreiung des Landes. Der Panzer soll bei der Offensive auf Kraljevo helfen, leider erkennen die Partisanen zu spät, wer der Fahrer ist, was Lazar mit seinem Leben bezahlt. Und während die Wehrmacht zum Gegenschlag ausholt und immer weiter vorrückt, bekämpfen sich die Partisanen inzwischen gegenseitig. Sie richten Frauen wegen Anbandelung und Kollaboration mit dem Feind, sie drohen ihren Spendern, die nicht mehr opfern können und überlegen die Seiten zu wechseln.

Puriša machte keine halben Sachen und kritisierte alles und jeden. Niemand kam besonders gut oder besonders schlecht weg. Er durchleuchtete die Widersprüche vergangener Taten und auch der sozialistischen Entwicklung Jugoslawiens, immer im steten Wechsel von Ironie und Ernst. Puriša erschaffte mit lyrischpoetischen Mitteln einen erfrischenden Cocktail aus Realität und Fiktion, die zu einem ernsten Blick auf das damalige Jugoslawien aufforderte. Mit der Kamera fing er die Natur des Krieges ein, zeigte die Leiden und die Verbrechen, die nicht nur von den Wehrmachtssoldaten, sondern auch von den Partisanen verübt wurden und die unmoralischen Befehle, die von deren Offizieren gegeben wurden. Wie rechtfertigt man die Verurteilung und Erschießung von Menschen, die um des Überlebens willen sich angepasst haben, Frauen, die mit Deutschen Liebeleien anfingen, welche sie mit Aufmerksamkeiten und etwas Normalität wie Theater und Tanz verführten. Was ist das für eine Politik, die von jemanden verlangt, seinen Lebenspartner im Kampf sterben zu lassen, die eigenen Kinder spionieren zu lassen, und dann die eigenen Eltern wegen Landesverrat hinrichten will. Weshalb werden Mörder wie Helden gefeiert, auch wenn sie Menschen als Kanonenfutter verschwenden. Die selben Helden, die mit Lobgesang, Orchester und vollen Ehren auf einem Friedhof beerdigt werden, während die, die ihr Leben für die Sache gelassen haben, unbesungen an einem unbekannten Ort verrotten. Purišas Quintessenz tropft aus jeder Szene von „Ein serbischer Traum“ und lässt sich auch gut mit Ljuba Tadićs Filmworten wiedergeben. „Ob ein ‚Heil-Hitler’ oder ein ‚Es lebe Stalin’, ob ‚Bauer’ oder ‚Königstreu’. Es gibt keinen Unterschied. Alle hungern und letztendlich gewinnt nur der Tod.“

Untermalt wurde die Botschaft von einem jugoslawischen „Traum-Ensemble“. Um nur wenige zu nennen: Olivera Katarina, die „Sex-Ikone“ Jugoslawiens, die nicht nur die taffe Kämpferin sondern auch die gefühlvolle Zweiflerin mimte, erhielt Unterstützung von Ljubiša Samardžić, dem jugosl. „James Dean“ der 60er. Und auch wenn nur kurz auf dem Schirm zu sehen, brillierte der erst dieses Jahr verstorbene Velimir Živojinović in seiner Lieblingsrolle als knallharten Haudegen, „Bata“, der nur als Legende des kinematischen Balkans bezeichnet werden kann.

Und obwohl eine ganze Welt damals von der Befreiung vom Dritten Reich träumte und dafür auch bereit war zu sterben, ist Purišas „Traum“ viel weiter gefächert. Ein Traum, der eigentlich mit der deutschen Kapitulation beginnen sollte, lief aus der Spur. Korruption, Scheinheiligkeit, Verbrechen, Glorifizierung. Purišas Traum war, dass sich das Volk darüber Gedanken macht, es sollte sinnbildlich aus seinem Traum erwachen. Den Menschen sollte sich ein Geistesblitz offenbaren, wenn sie im Film hören „Der Krieg ist nicht der Traum, der Traum ist das, was danach kommt.“

Ein Gastbeitrag von Tito


Kommentare und Diskussionen

  1. PierrotLeFou sagt:

    Grundsätzlich will ich natürlich allen Mitschreibern dieser Rubrik (ratz, Stefan M, Vodkamartini) einmal ganz herzlich danken.
    An dieser Stelle bin ich besonders erfreut über diese Unterstützung, denn ohne Titos Bereitschaft, diesen Film nochmals zu sichten und (ausführlich) zu besprechen, wäre er hier (aufgrund fehlender UT) überhaupt nicht aufgetaucht…. Und weil der heutzutage hierzulande etwas vergessene Film seinerzeit durchaus ziemlich gewürdigt worden ist und weil zudem der Balkan in dieser Rubrik ohnehin kaum präsent ist, freut es mich sehr, dass “San” hier gewürdigt werden konnte…

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