Evdokia (1971)
Griechenland hatte in den 60er Jahren ein boomendes kommerzielles Kino aufweisen können, dessen Hochphase in die Jahre 1965/1966 fiel. Die Militärdiktatur, die 1967 begann, um 1974 zu enden, hatte diese Entwicklung (und erste Versuche einer ästhetischen Modernisierung) jäh abbrechen lassen. In den 70er Jahren entwickelte sich daraufhin ein Kino, das sich nicht bloß mit den Zensurmaßnahmen der Obristendiktatur zu arrangieren hatte, sondern Zensur und/oder Diktatur auch zum Bestandteil eines jeweiligen Films machte. Theo Angelopoulos, der mit "Anaparastassi" (1970) und "Meres Tou 36" (1972) seine ersten Filme während der Dikatur drehte und veröffentlichte – sein erstes Opus magnum "O Thiassos" (1975) wurde noch zu Zeiten der Diktatur begonnen, aber nach ihrem Ende fertiggestellt! –, hatte sich in diesen Arbeiten eine Ästhetik der Leerstellen angeeignet: eine Rückgriff auf die Teichoskopie, die Mauerschau, des Theaters, der zugleich eine Antwort auf Darstellungsverbote der Zensoren war und subversive Umgehungstaktiken lieferte. Ein anderer griechischer Filme, der heute (vor allem hierzulande) weniger bekannt ist als Angelopoulos' Arbeiten, besaß – und besitzt teilweise noch heute – den Ruf, eines der wichtigsten Werke aus der Zeit der Obristendiktatur zu sein, das die Stimmung jener Zeit perfekt einzufangen verstand: "Evdokia", uraufgeführt am 21. September 1971 auf dem Thessaloniki International Film Festival, wurde immer wieder von einzelnen Kritiker(inne)n oder Magazinen zum besten griechischen Film überhaupt gewählt. (Man sollte heute freilich nicht vergessen, dass solche Einschätzungen größtenteils schon um die 40 Jahre alt sind; dass also mehrere Jahrzehnte griechischen Filmschaffen dort naturgemäß nicht berücksichtigt werden konnten.)
Auch "Evdokia" von Alexis Damianos, der anders als Angelopoulos schon vor der Diktatur einen Langspielfilm gedreht hat, lässt in der Bezugnahme auf die Gegenwart die antiken Tragödien mitschwingen: nicht über die Teichoskopie – Damianos erweist sich insgesamt als stilistisch weniger eigenwillig und streng! –, sondern über das Fatum des Dramas, das über minimalistische Formen von Dramaturgie oder Bildkomposition parabelhafte Züge oder symbolische Bedeutungen verliehen bekommt. "Evdokia" ist die Liebesgeschichte zwischen der Prostituierten Evdokia und dem Soldaten Yiorgos: Es ist eine tragisch scheiternde Liebesgeschichte, verunglückend an der Unfähigkeit der Prostituierten, sich aus der Fremdbestimmtheit zu lösen, und am Soldatentum des Mannes, der besitzen, nicht teilen will – und der losgelöst von der Armee zum Scheitern verurteilt ist. Immer wieder gibt es bedeutungsschwere Momente im Fluss des Films: eine Schlägerei leitet zum Tanz über, von welchem auf die Exerzierübungen der Armee geschnitten wird – Gewalt, Spiel und Ritual verschmelzen beim soldatischen Mann zu einem bizarren Männerbild. Und da ist eine karge Einstellung leerer, weißer Wand, vor der sich erst Evdokia und ein Spiegel, schließlich nur noch der Spiegel befinden, in den hineinzusehen das Publikum genötigt ist – naturgemäß ohne sich selbst erblicken zu können. Überhaupt ist vieles karg und leer in "Evdokia" Felsen und Sand, Stacheldraht und Zäune, Weite und Leere dominieren als Setting – neben der im griechischen Kino so häufig anzutreffenden Taverne – das Geschehen und bilden somit eine reichlich leb- und trostlose (sowie erstaunlich monotone Technicolor-)Seelenlandschaft dieses Liebesdramas ab, in dem die jeweils unterschiedliche Verankerung beider Personen in der Gesellschaft ihr funktionsfähiges Zusammenkommen vereitelt: auch über Evdokias Zuhälter, der sich im Finale einmischt. Das nimmt ein wenig Filme wie Claire Denis' "Beau travail" (1999) oder Bruno Dumonts "Twentynine Palms" (2003) vorweg, in denen Rollenbilder ebenfalls in archaischer, mythisch erscheinender leerer Landschaft entfaltet werden... Die entschlackte, mythische Kerngeschichte – die auch für ein internationales Publikum leicht als Kommentar auf ein Griechland unter den Obristen lesbar war und ist, aber wie durch ein Wunder nicht von den Zensoren vereitelt wurde (denn lediglich der ursprüngliche Titel "To koritsi tou stratioti" (Die Dirne des Soldaten) konnte nicht beibehalten werden, der Film selbst wurde nach kurzzeitigem Verbot wieder freigegeben) – ist filmisch dabei vor allem von Neorealismus geprägt: insbesondere die Prostitutionsdramen eines Fellini oder Pasolini kommen in den Sinn. Der Neorealismus besitzt für "Evdokia" gar größeren Stellenwert als die nouvelle vague, der sich etwa Theo Angelopoulos stärker angenommen hatte: formal relativ zurückhaltend entspinnt sich so ein bedeutungsschweres Drama von großer emotionaler Intensität – und wie seine Filmmusik avancierte auch der Film selbst in seiner Heimat zum großen kommerziellen Erfolg, der über Jahre als einer der ganz großen Hits des griechischen Kinos in die Geschichte einging.
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