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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Zeitdokument von Jean-Luc Godard

Stichwörter: 1960er Bardot Cinéma-vérité Drama Frankreich Godard Goya Jobert Jubiläum Klassiker Léaud Maupassant Nouvelle-Vague Spielfilm Tragikomödie

Masculin, féminin (1966)

In "Bande à Part" (1964) hatte Godard gegen Ende ironisch die Fortsetzung in Cinemascope & Technicolor angekündigt (im Wissen, dass beides kein Garant für einen guten Film ist und dass ein guter Film auch gut ohne beides zurecht kommt); zuvor bot er beides in "Le mépris" (1963) - seinem Film über das Filmgeschäft -, Breitbild & Eastmancolor gab es wenig später in "Pierrot le fou" (1965) - seinem Film aus der Filmlandschaft und über den Film. Aber bevor er sich dann dauerhaft dem Farbfilm und überwiegend dem Breitbildformat widmete, legte er nochmals ein s/w- & 4:3-Werk vor, das auch noch weit fragmentarischer & dramaturgieloser wirkte als "Pierrot le fou" und übliche Filmdialoge geradezu durch einen interviewartigen Tonfall ersetzte...

"Masculin, féminin" - uraufgeführt am 22. März 1966 - gibt sich recht unsensationell & unspektakulär - wenngleich er mit Jean-Pierre Léaud, Chantal Goya, Brigitte Bardot und Elsa Leroy seinerzeit recht interessant besetzt gewirkt haben muss (während man heute Goya und Leroy nicht mehr kennen dürfte, dafür vielleicht noch Marlène Jobert nennen könnte) - und will sicher nicht das sein, was einem gern als großes Kino verkauft wird. Sein Spielfilm steht eher in der Tradition von Jean Rouchs & Edgar Morins Paris-Alltags-Cinéma-vérité-Doku "Chronique d'un été (Paris 1960)" (1961) und von Chris Marker eigenwilliger Cinéma-vérité-Variation "Le joli mai" (1963) - angefertigt im Pariser Frühling nach Ende des Algerienkriegs! - und ließ (was manch einstiger Kritiker des Films inzwischen eingestanden hat) vermutlich erst ein, zwei Jahre später erkennen, was man an "Masculin, féminin" hatte: Der Film ist das Zeitbild einer Phase der Umwälzungen, in der eine junge, zwischen Marx und Coca Cola und im Zeichen von Vietnam heranwachsende Generation ihren Platz sucht: Und dieser Platz liegt vielleicht in einer Schlager-Karriere, in einer Journalisten-Karriere, in einer Existenz als Protestler, im Partnerschafts-, Mutter- oder im Single-Dasein, aber ganz sicher nicht im Elternhaus. Es sind aber eben nicht allein die üblichen Coming of Age-Probleme, mit denen sich die Figuren herumschleppen: auch die zunehmende Politisierung einer jungen Generation, eine immer aggressiver werdende Konsumgesellschaft und auch eine immer größer werdende Offenheit & Freiheit treiben die jungen Figuren umher, die gar nicht so recht wissen, wo & wozu sie Halt finden können & wollen. Einer der Jugendlichen, ein Romantiker, der sich auf Weisung eines Freundes etwas mehr in seinem Umfeld umsehen soll, stürzt dann am Ende auch von einem Balkon - und hat im wahrsten Sinne des Wortes keinen Halt gefunden. Die Freundin bleibt schwanger zurück - was sie nun machen will? Sie weiß es nicht... vielleicht Stricknadeln. Eine gewählte 'Mademoiselle Age Tendre' - die tatsächliche 1965er Gewinner Elsa Leroy, die mit ihrer Rolle im Film nicht sonderlich zufrieden war (was angesichts des grundsätzlich fragwürdigen Frauenbildes in diesem Film noch verständlicher ist) - lebt für den Augenblick und lässt sich einfach (im relativen Luxus) dahintreiben. Diese Ratlosigkeit & Orientierungslosigkeit schlägt sich in einer nur nebensächlichen Handlung nieder, die zwei junge Männer und drei junge Frauen umkreist - und sich mit Namen und Konstellationen ganz frei an Maupassants "La femme de Paul" anlehnt , aber vor allem aus einzelnen Zwischenfällen & Episoden besteht, die in keinem erkennbaren Zusammenhang stehen: hier zündet sich jemand für den Frieden in Vietnam an, da droht jemand mit einem Klappmesser und ersticht sich schließlich selbst, dort streiten sich zwei Farbige mit einer bewaffneten Blondine, anderswo eskaliert ein Ehestreit in einen Schusswechsel, in einem Kino läuft ein grotesk überzeichnetes Entfremdungsdrama - und die Zeugen werden mit einem "Sie wissen doch gar nicht, worum es geht" abgespeist oder nehmen das Geschehen allenfalls unbewusst & am Rande wahr. Selbst in ihren Monologen erzählen die Figuren von sonderbaren Ereignissen, die sie nicht richtig einordnen können... - wenn sie sich nicht gerade ausfragen oder Vorträge halten. Da hilft die Feststellung, dass die soziale Existenz das Bewusstsein bestimmt, wenig, wenn man sich inmitten dieser Existenz nicht so richtig zurecht findet und sie nicht zu greifen weiß: so unterschreibt man Petitionen, schmiert Slogans an Wände & Türen und hadert mit seinem Privat- & Berufsleben. "Masculin, féminin" ist ein herrlich unterhaltsamer Film, voller absurder Komik, wenngleich auch voller beklemmender Einsamkeit & Traurigkeit... ein Film über die 68er im Jahre 1966. In seinen nächsten Filmen der kommenden Jahre bewegte sich Godard dann zunehmend von der Feststellung einer Irritation und eines Wandels in der Gesellschaft zur Analyse der immer greifbarer werdenden Probleme & Bewegungen der Gesellschaft.
Tömmes widmet sich diesem Godard in seinem lesenswerten, ausführlichen Review.


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