Who's Afraid of Virginia Woolf? (1966)
Jack Valenti, der ehemalige Vorsitzende des amerikanischen Filmstudioverbands MPAA, berichtet, es seien zwei Filme gewesen, die ihn 1968 zur Abschaffung des Hays-Codes, jener berüchtigten Instanz der US-Filmzensur, bewegt hätten: Antonionis „Blow Up“ und „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ von Mike Nichols. Während bei Antonioni hauptsächlich nackte Mädchen die Gemüter erregten, spielte sich die Provokation in der Schwarzweiß-Adaption des erfolgreichen Theaterstücks von Edward Albee auf rein verbaler Ebene ab – doch die Bedeutung des Films reicht viel weiter.
So ist „Virginia Woolf“ der erste Film des Bühnenkomödianten und heiß gehandelten Theaterregisseurs Mike Nichols – nicht etwa durch dessen Zutun wurde John Frankenheimer ersetzt, sondern auf Insistieren des Megastars Elizabeth Taylor, die für die weibliche Hauptrolle verpflichtet worden war. Richard Burton, auch im wahren Leben Taylors Ehemann und Star von nicht minderer Statur und Medienpräsenz, spielt im Film ihren Gatten, was die Publicity-Maschinerie im Vorfeld natürlich wirksam befeuerte und nach der Premiere am 21. Juni 1966 für stattliche Besucherzahlen sorgte. Doch „Virginia Woolf“ ist trotz dieser Voraussetzungen alles andere als ein typisches Starvehikel, sondern das geradezu erschreckende Portrait einer zerrütteten Ehe, in der sich die langjährigen Partner gegenseitig verletzen und demütigen, bevorzugt im Beisein anderer. Der Film zeigt nur wenige Stunden während einer alkoholgeschwängerten Nacht im Haus der beiden, in der ein junges Ehepaar (Sandy Dennis und George Segal), das nach einer Party noch auf einen Drink vorbeikommt, zum Spielball der einander Haßliebenden und unter ihren perfiden Attacken aufgerieben wird. Zwar offenbart sich überraschend der tieftraurige Kern dieser Beziehung, was einfache Schuldzuweisungen unmöglich macht, doch ist aus anderer Perspektive auch die gallige Überzeichnung der intellektuell gebildeten höhereren Mittelschicht erkennbar, wie sie in ihre unbarmherzigen Konventionen von Karrierismus und Selbstlegitimierung und -behauptung verstrickt ist und daran leidet.
Kamera-Ikone Haskell Wexler, der noch am Anfang seiner Karriere stand, sorgt indessen dafür, daß dieses intensive Kammerspiel niemals theatralisch wirkt, und schöpft das gesamte formale Repertoire seiner Kunst von der dynamischen Handkamera bis zu plötzlichen Großaufnahmen aus, während Regisseur Nichols in langen Takes die Schauspieler arbeiten läßt und für humorvolle Momente und Ruhepausen zwischen den heftigen Wortgefechten sorgt. Alex North‘ sanfte Filmmusik konterkariert die verbalen Bosheiten und weist auf die zugrundeliegenden seelische Versehrtheit der Protagonisten hin. Dergestalt erlangt „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ eine emotionale Wucht, gegen die sich etwa Polanskis in mancher Hinsicht vergleichbarer „Gott des Gemetzels“ (2011) wie ein harmloses Kaffeekränzchen ausnimmt.
Deutsche Heimkinofreunde können seit zwei Wochen aufatmen: Die vorzüglich mit Extras ausgestattete, jedoch seit Jahren ausverkaufte Special-Edition-DVD (Fassungseintrag von Karm) wurde endlich als inhaltsgleiche Blu-ray-Ausgabe neu aufgelegt. So kann nicht nur die hochintelligente Selbstzerfleischung eines Ehepaares in einwandfreier Bildqualität genossen, sondern auch den lehrreichen Audiokommentaren von Regisseur und Kameramann gelauscht werden.
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