Verlogene Moral (1921)
Der im österreichischen Graz geborene Drehbuchautor Carl Mayer gehört zu den gerühmtesten seiner Zunft im Kino der Weimarer Republik: schon zu Lebzeiten vergleichsweise populär, ist Mayer nun bereits seit über 30 Jahren der Namensgeber des Carl Mayer-Drehbuchwettbewerbs der Diagonale und sicher einer der (vielleicht sogar international) am wenigsten vergessenen Drehbuchautoren seiner Generation. Drehbuch-Lesungen und -Buchveröffentlichungen sorgten schon in den 20er-Jahren für reichlich Aufmerksamkeit, längerfristig sicherten aber wohl die großen Filmumsetzungen seiner Drehbücher Mayers Relevanz: immerhin schrieb er die Bücher für "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920) – gemeinsam mit Hans Janowitz –, "Scherben" (1921), "Hintertreppe" (1921), "Sylvester" (1924), "Der letzte Mann" (1924) oder "Sunrise: A Song of Two Humans" (1927), lieferte die Idee für "Berlin - Die Sinfonie der Großstadt" (1927) oder eine Art Treatment für "Die Straße" (1923). Er begleitete weite Teile von Friedrich Wilhelm Murnaus Karriere, prägte erheblich den deutschen Kammerspielfilm, trug auch zum Bild des expressionistischen Films bei und begleitete mit Produktionen wie "Stürme über dem Mont Blanc" (1930) oder "Das blaue Licht - Eine Berglegende aus den Dolomiten" (1932) auch den kleinen Boom an Bergfilmen. Die Hälfte der Filme nach Mayer-Drehbuch besitzt heute Klassikerstatus.
Zu den meist übergangenen Filmen nach Mayer gehört unter anderem "Verlogene Moral", der am 4. März 1921 erstmals zu sehen war. Übergangen wurde "Verlogene Moral" wohl vor allem deshalb, weil der Regisseur Hanns Kobe vollständig in Vergessenheit geraten ist (und "Verlogene Moral" ist der einzige seiner Filme, der überhaupt Wertungen auf der IMDb für sich verbuchen konnte: gerade einmal 29!), was auch für Hauptdarsteller Gerd Fricke gilt; etwas bekannter sind die tragenden Darstellerinnen Marija Leiko und besonders Adele Sandrock geblieben, aber lediglich Eugen Klöpfer mag im Cast als wirklich prominenter, allerdings längst negativ konnotierter Name erscheinen – vor allem deshalb, weil Klöpfers Rolle im Propagandafilm "Jud Süß" (1940) breitenwirksam ausfiel und der Darsteller (der in der NSDAP Mitglied und in die Gottbegnadeten-Liste aufgenommen worden war) in der Nachkriegszeit als Angeklagter und als Zeuge in mehrere Prozesse zur Nazi-Vergangenheit verwickelt war. Sieht man davon ab, dass Karl Freund für die Kamerahandhabung verantwortlich war, weist "Verlogene Moral" wenige große (geschweige denn geschätzte) Namen auf.
Dabei lohnt sich eine Sichtung durchaus: Der Film – dem gemäß Reclams Filmführer eine isländische Novelle zugrunde liegen soll – vereint (Mayers und Lupu Picks "Scherben" vergleichbar) Elemente des Kammerspiels mit expressionistischen Motiven und erzählt die Geschichte eines Mannes, der von seiner berechnenden, herrischen Tante von seiner Geliebten, einer einfachen Magd, getrennt und in die Arme einer anderen Frau getrieben wird, die er nicht liebt, derweil die geschwängerte Geliebte im Hause eines Sargtischlers und seiner Mutter unterkommt. Am Ende stehen eine Katastrophe und eine Hochzeit dicht nebeneinander, wenn die tote Geliebte im neu angefertigten Sarg als Hochzeitsgeschenk mit anklagender Geste den Feiernden dargeboten wird: ein frappierender Kontrast, dessen Gewahrwerdung zuletzt für einen hochdramatischen Schlusspunkt sorgt, der aus "Verlogene Moral" auch eine Art Emanzipationsgeschichte macht. Leicht expressionistische Kulissen und Kostüme intensivieren (in zumeist sorgsam bewerkstelligten Bildkompositionen) die so einfache wie schwermütige Geschichte recht effektiv, wobei gelegentliche Totalen und Nahaufnahmen die solide Inszenierung abrunden. Ein rustikales Melodram zwischen expressionistischen Untertönen und sachter Distanzierung ist "Verlogene Moral", der nicht bloß eine solch verlogene Moral anprangert, sondern auch dafür plädiert, dem Ruf des Herzens zu gehorchen und sich nicht äußeren Einflussnahmen zu beugen. Eine sorgfältig restaurierte Fassung steht leider noch aus...
Registrieren/Einloggen im User-Center