Abschied von gestern - (Anita G.) (1966)
1962 wird das Oberhausener Manifest verlesen. Alexander Kluge - damals 30 Jahre alt, seit sechs Jahren promovierter Jurist und durch den guten Rat Adornos als kleiner Assistent bei Fritz Langs "Das indische Grabmal" (1958) zum Film gekommen - war einer der klugen Köpfe hinter diesem Manifest. Drei Jahre darauf wird das Kuratorium junger deutscher Film gegründet. 1966 dreht Kluge seinen ersten Lang- & Spielfilm, nachdem er seit 1961 schon drei Kurzfilme in Co-Regie bewerkstelligt hatte. Es ist zugleich der erste Film, den das Kuratorium junger deutscher Film förderte.
"Abschied von gestern - (Anita G.)" - am 5. September 1966 auf den Internationalen Filmfestspielen von Venedig aufgeführt, wo der Film den Silbernen Löwen und acht weitere Auszeichnungen erhielt - ist charakteristisch für Kluges kommendes Filmwerk, das seit den späten 80er Jahren vor allem als dctp-Programm über die Fernseh-Bildschirme flackerte: Es ist ein brüchiges, fragmentarisches Werk, durchzogen von brechtschen und godardschen Einflüssen, das keine einfachen Geschichten erzählen will, sondern an deren Leerstellen, Unklarheiten, Zufälligkeiten interessiert ist, um eine alternative Perspektive auf ein und dieselbe Wirklichkeit zu werfen, die anderswo meist anhand roter Fäden erklärt wird. Der Haupttitel "Abschied von gestern" lässt zunächst einmal darauf schließen, dass sich Kluges neuer deutscher Film gegen den alten deutschen Film stellen will; dann zeigt sich, dass es auch um ein gegenwärtiges Deutschland und seine Haltung zur eigenen Geschichte geht; und letztlich geht es auch um die zwischentitelgebende "veränderte Lage", die ein jedes Heute von seinem Gestern trennt. Kluges Film basiert dabei auf einer eigenen Literaturvorlage - auf einem seiner "Lebensläufe" (1962): Es ist die episodenhafte, sprunghafte Geschichte der Anita G., die sich - nach einem Diebstahl zu einer Strafe auf Bewährung verurteilt - ohne Geld und festen Wohnsitz, ohne festes Ziel und ohne festen Partner durch die Bundesrepublik Deutschland bewegt und nie ihre Berufung zu finden scheint. Der Film bewegt sich vorbei an Richtern, Professoren, wissenschaftlichen Mitarbeitern, Firmenchefs, Generalstaatsanwälten, verweist in Bild und Ton immer wieder auf die Geschichte bis in den 2. Weltkrieg, reiht Standbilder an Bewegtbilder, Dokumentarisches an Fiktionales, greift auf stop motion und Zeitraffer zurück, lässt Traumbilder in die echten Bilder einfallen, unterbricht seine Geschichte(n) für Heinrich Hoffmann-Bildergeschichten, mit denen Kluges Humor und Kluges Ambitionen viel gemeinsam haben.
Dennoch ist das Langfilmdebüt gemeinsam mit "Gelegenheitsarbeit einer Sklavin" (1973) - vielleicht Kluges bester Film! - und "Der starke Ferdinand" (1976) einer seiner kohärentesten Filme: Schon sein zweiter Langfilm "Die Artisten in der Zirkuskuppel: Ratlos" (1968) gab sich wesentlich brüchiger und löste eine denkwürdige Fernsehdiskussion aus. Großen Anteil an der Qualität seiner Filme hatte auch die Cutterin Beate Mainka-Jellinghaus, die Kluge (und Reitz und Herzog) über Jahre hinweg begleitete. (Auch für sie war es ein Langfilm-Debüt.) Diese Brüchigkeit - und das eint Kluge mit Godard, über welchen er einst den Kurzfilm "Blinde Liebe - Gespräch mit Jean-Luc Godard" (2001) gedreht hatte! - ist schon im Debüt gut zu erkennen (wenngleich Kluges essayistische Qualität hier nur sehr verhalten durchscheint!) und souverän gehandhabt worden, radikalisierte sich im Laufe der Jahre aber noch erheblich: denn je brüchiger ein Film ist, desto aktiver ist das Publikum (mit seiner Fantasie) Kluge zufolge. (Ein Gedanke, der später leicht abgewandelt eine große Rolle in Deleuzes Filmtheorie spielen sollte.)
Die Edition Filmmuseum hat Kluges (mit Alexandra Kluge, Alfred Edel und Fritz Bauer (!) besetzten) Film - wie all seine anderen Langfilme des 20. Jahrhunderts - in einer hervorragenden Veröffentlichung auf DVD herausgebracht: Wer ohnehin am Gesamtpaket interessiert ist, kann auch getrost zur (inzwischen vegriffenen) Zweitausendeins-Edition "Alexander Kluge - Sämtliche Kinofilme" greifen, die alle 16 Filmmuseum-DVDs in acht Digipacks mit einem Buch in einem stabilen Schuber darbietet. (Fassungseintrag von Bretzelburger) Die inhaltsgleichen, jeweils zwei Langfilme (in diesem Fall: "Abschied von gestern" & "Gelegenheitsarbeit einer Sklavin"!) umfassenden Einzelveröffentlichungen der Edition Filmmuseum selbst sind nach wie vor erhältlich. Wer bloß an Kluges Debütfilm interessiert ist, kommt mit der jüngeren ALIVE-DVD am kostengünstigsten weg: Eintrag von Mogli
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