Coeur fidèle (1923)
Der hochgebildete und umtriebige Kritiker, Theoretiker, Autor und Regisseur Jean Epstein, geboren 1897, war ungefähr genauso alt wie das Medium Film und damit gerade 26 Jahre jung, als er am 23. November 1923 seinen bereits vierten Film „Coeur fidèle“ vorlegte. Im Gegensatz zur im selben Jahr herausgebrachten Balzac-Verfilmung „L’auberge rouge“, Anniversary-Text) lag „Coeur fidèle“ ein eigenes Skript zugrunde, ein schwermütiges Liebes- und Eifersuchtsdrama, das Epstein gemeinsam mit seiner Schwester Marie verfaßt hatte.
Der einfach gehaltene Plot um eine junge Frau (Gina Manès), die von einem gewalttätigen Mann (Edmond van Daële) zur Ehe gezwungen wird, jedoch heimlich einen sanftmütigen Arbeiter (Léon Mathot) liebt, spielt im untersten sozialen Milieu, das nie verlassen wird. Epstein zeigt billige Kneipen, von Müll übersäte Straßen, ärmliche Wohnungen und zerlumpte Kleider, für die Außenaufnahmen wurde vor Ort in den Straßen und am Hafen von Marseille gedreht. Der bittere Sozialrealismus wird jedoch nicht vorgeführt, sondern bildet lediglich die Folie für die Gefühle der Protagonisten: diese fängt Epstein durch – für einen frühen Stummfilm ungewohnt – intensive Großaufnahmen ihrer Gesichter ein und illustriert damit seine eigenen filmtheoretischen Schriften, die er kurz zuvor veröffentlicht hatte. Das langsame Erzähltempo mit wenigen Zwischentiteln wurde schon damals im Kontrast zur „amerikanischen“, plotgetriebenen Erzählweise gesehen, entsprechend verweilt Epstein besonders gern auf den ausdrucksstarken, silbrig glänzenden Augen seiner Hauptdarstellerin. Durch diese Nähe wird die sonst stummfilm-übliche, heute oft als übertrieben empfundene Mimik vermieden, da kleinste emotionale Regungen eingefangen werden können. Gelegentliche surreale Momente, kunstvolle Überblendungen und Montagen illustrieren das Innenleben der Charaktere in „Coeur fidèle“, besonders effektiv ist etwa der Einsatz von Zerrspiegeln zur Darstellung des Alkoholrausches.
Die Filme von Jean Epstein hatten trotz oder wegen ihrer Eigenwilligkeit seinerzeit wenig Erfolg beim Publikum, wurden aber von namhaften Filmemacher-Kollegen geschätzt und bewundert (René Clair, Jean Cocteau, Jean Renoir). „Coeur fidèle“ ist aktuell schwer erhältlich, denn leider ist die hervorragende britische Blu-ray von Eureka (Fassungseintrag) vergriffen. Allerdings stellt der Cinema Club des Sands Films Studios eine Online-Fassung zur Verfügung, die im Netz leicht zu finden ist.
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