Memorias del subdesarrollo (1968)
Im Jahre 1968, als sich weltweit ein revolutionäres Beben einstellt, hat Kuba seine Revolution längst hinter sich: Von 1953 bis 1959 zog sich die kubanische Revolution, die auf Batistas Diktatur folgte bzw. reagierte. Die gesellschaftlichen Veränderungen durchzogen die 60er Jahre aber nicht minder: Landwirtschaft und Arbeitsproduktivität veränderten sich merklich, Wehrpflicht und Arbeitslager wurden eingeführt und über mögliche Wirtschaftsmodelle angestrengt diskutiert. Es war eine Dekade der massiven Schwierigkeiten, in der zuhauf Probleme aufkamen und manche Misstände sich eher verschärften, anstatt sich zu verbessern – etwa die Situation der Homosexuellen. Für Filmschaffende waren die 60er Jahre aber vor allem eine Zeit der neuen Freiheiten – ehe dann ab 1971 auch für sie das Graue Jahrfünft begann.
Kurz nach der Revolution wurde – noch 1959 – das ICAIC, das Instituto Cubano del Arte e Industria Cinematográficos, gegründet und das Medium Film explizit als Kunstform definiert. Zunächst produziert das ICAIC vor allem – von Joris Ivens und Theodor Christensen beeinflusste – Dokumentarfilme und Kurzfilme, zu denen sich auch einige vielbeachtete Arbeiten kubabegeisterter Ausländer gesellen: Chris Marker etwa dreht "¡Cuba Sí!" (1961), Agnes Varda "Salut les cubains" (1963) und Joris Ivens "Pueblo Armado" (1961) & "Carnet de viaje" (1961)... Zunehmend gesellen sich dann aber auch Langspielfilme mit künstlerisch enormen Freiheiten hinzu, die keinerlei kommerziellen Überlegungen zu folgen hatten und von denen ein Großteil zu etablierten Klassikern des kubanischen Kinos avancieren sollte.
Einer der ganz großen kubanischen Filmemacher war ICAIC-Gründungsmitglied Tomás Gutiérrez Alea, der ab "Historias de la revolución" (1960) – nach einigen kurzen Frühwerken während der Batista-Diktatur – quasi einen kubanischen Filmklassiker nach dem anderen hervorbringt. Sein am 1. Juni 1968 in Italien uraufgeführter "Memorias del subdesarrollo" gilt gemeinhin nicht bloß als sein bester Film, sondern vielen auch als bester kubanischer Filmklassiker überhaupt, neben dem allenfalls noch Mikhail Kalatozovs "Soy Cuba" (1965) bestehen kann. Die New York Times zählte Aleas Hauptwerk gar zu den zehn besten Filmen des Jahres.
Mit "Memorias del subdesarrollo" hat Alea, der zu dieser Zeit seine umfangreichen Neorealismus-Kenntnisse mit besten Kenntnissen der Nouvelle Vague und des frühen sowjetischen Kinos angereichert hatte, einen Mix aus Gesellschafts- und Selbstkritik abgeliefert, der schon im Titel anklingt: Es geht um die subjektive Erinnerung (aber auch Vergegenwärtigung und Wahrnehmung) einerseits und andererseits um die gesellschaftliche Unterentwicklung. Passend zum Inhalt schwankt dann auch die Form zwischen dokumentarischen und fiktionalisierenden Elementen, zwischen Archivaufnahmen und Spielszenen. (Dafür sorgte aber auch der Umstand, dass Alea wie viele seiner Kollegen vom wesentlich weiter verbreiteten Dokumentarfilm zum Spielfilm kam.) Und nicht bloß fiktive Figuren agieren in dem Film, sondern Alea und Romanvorlagen-Autor Edmundo Desnoes sind ebenfalls in Filmemacher-/Schriftsteller-Rollen zu sehen. Erzählt wird – nach der 1965 veröffentlichten Romanvorlage – die Geschichte des wohlhabenden Intellektuellen & Bourgeois Sergio, der sich Anfang der 60er Jahre nicht wie sein familäres Umfeld und seine Ex-Frau ins Ausland begibt, sondern in Kuba bleibt und die gesellschaftlichen Ereignisse als passiver (wenngleich schreibender) Zuschauer verfolgt – und zugleich eine folgenschwere Beziehung mit einer jüngeren (und intellektuell vermeintlich "unterentwickelten") Frau eingeht, deren Tragweite er erst zu spät durchschaut. Die Geschichte des alternden Intellektuellen, der sich in einer Zeit des Umbruchs ins Beobachten & Reflektieren zurückzieht und zu Einsamkeit, Resignation und Unsicherheit findet, fand 1968 weltweit viele Bewunderer, wenngleich die kubanische Situation nochmals ganz besonders wandlungsreich ausfiel.
Unsicherheit war auch das erklärte Ziel Aleas: Alles infrage zu stellen – sich selbst, die Gesellschaft, aber auch das Kino und nicht zuletzt einen Film wie "Memorias del subdesarrollo" – und das (kubanische) Publikum zur Bestandaufnahme seiner Situation zu treiben, erschien ihm als Ideal; nicht zuletzt deshalb, weil die (ausnahmslos) sozialistischen Filmschaffenden eine gemeinsame Praxis lebten, die vom Streitgespräch und der deutlichen (Selbst-)Kritik geprägt war. Es ist – gleichwohl er zu Beginn der 60er Jahre angesiedelt ist – ein '68er-Zeitgeist-Film, welcher die Aktion und den Diskurs gleichermaßen einfordert. Darüber hinaus funktioniert er aber durchaus als (avantgardistisches) Drama über einen Menschen, der die Zeichen der Zeit nicht mehr versteht.
Bei Mr. Bongo liegt Aleas Meisterwerk seit einigen Jahren auf DVD vor: Fassungseintrag von pm.diebelshausen
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