Il Decameron (1971)
Giovanni Boccaccios "Il Decamerone" (~1350), Geoffrey Chaucers artverwandten "Canterybury Tales" (~1390) und die "Geschichten aus 1001 Nacht" bildeten die Vorlagen für Pier Paolo Pasolinis sinnlich-derbe Trilogie des Lebens, die als Variation seiner früheren mythisch-archaischen Phase gelten kann – und tonal nahezu gar nichts mit dem geradezu konträr angelegten filmischen Testament "Salò o le 120 giornate di Sodoma" (1975) gemeinsam haben sollte: wobei die Verbrennung des Schwulen in "I racconti di Canterbury" (1972) als Vorwegnahme erscheinen mag. Doch ist der Tonfall der Trilogie insgesamt heiter – und manch einem schien Pasolini damals schlichtweg auf der Welle populärer Sex-Komödien mitzuschwimmen. Heute mag man die Trilogie eher im Kontext des freizügiger gewordenen Autorenfilms der 70er-Jahre ansiedeln, der von Bertolucci oder Cavani über Ferreri oder Oshima oder bis hin zu Verhoeven oder Wertmüller seine Blüten trieb.
Der erste Teil der Trilogie des italienischen Filmemachers war der am 28. Juni 1971 auf der Berlinale uraufgeführte "Il Decameron" – besetzt mit den Pasolini-Stars Franco Citti und Ninetto Davoli, einmal mehr von Ennio Morricone musikuntermalt! – für den Pasolini sich einen der richtungsweisendsten und einflussreichsten italienischen Prosatexte überhaupt ausgewählt hatte: Rund um die von ihm selbst gespielte Figur eines Schülers Giottos reiht Pasolini acht Episoden auf, wobei er von seiner Omnibus- und Episodenfilm-Erfahrung der 60er Jahre profitieren kann. Die Sexualität ist dabei wie in den weiteren Teilen Dreh- und Angelpunkt des Geschehens: recht rustikal inszeniert geben sich die prägnanten, pointierten Geschichten, in denen etwa eine Frau ihren Gemahl in einen großen Krug lockt, um anschließend unbehelligt ihren Liebhaber zu treffen. Das war in Sachen Humor auch vor 50 Jahren und selbst in Italien nicht ganz up-to-date: aber so sehr wie das Decamerone identitätsstiftend für die italienische Literatur geworden ist, so sehr bestimmt auch der Sexualtrieb das Leben selbst. Pasolini, der in der Sexualität (zunächst noch) ein subversives Potential erblickte, das die Ordnung aufzuheben vermochte, legte es darauf an, dieses Ursprunghafte herauszustellen: indem er dem Sexualtrieb die entscheidende dramaturgische Funktion zukommen ließ und indem er aber auch den Film geradezu als Zitation eines Ur-Bildes, eines über 600 Jahre alten Stückes Weltliteratur, erscheinen ließ. Den Optimismus, den Pasolini 1971 noch in diese Trilogie gesteckt hatte, um die Sexualität als befreiendes Moment, als vitale Kraft, als Subversion zu feiern, hatte er Mitte der 70er Jahre dann gänzlich verloren. Sein letzter, postum aufgeführter Spielfilm liest sich wie ein resignierender Gegenentwurf, nach welchem selbst der Sex und die Liebe einer Verwertungslogik unterworfen werden können: "Il Decameron" erscheint dann – so wie es manche Kritiker(innen) schon vorher empfanden – als besonders stark kommerziell ausgerichtetes Konsumprodukt... hat aber zumindest seinen Teil zur sexuellen Revolution beigetragen.
Konsumieren lässt sich der Film seit anderthalb Jahren auf Blu-ray in der "Trilogy of Life"-Edition des BFI: Fassungseintrag von Sir Francis
Registrieren/Einloggen im User-Center