The Age of Innocence (1993)
Spätestens mit „The Last Temptation of Christ” (1988) hatte der Regisseur Martin Scorsese (erneut) bewiesen, daß sich sein filmischer Kosmos nicht auf die hektisch-nervöse Darstellung gewalttätiger Halb- oder Unterweltkreise beschränkte – mit diesen wird er allerdings bis heute vom breiten Publikum assoziiert. Mit „The Age of Innocence“, der am 31. August 1993 beim Filmfestival von Venedig vorgestellt wurde, schlägt seine Filmographie erneut einen unerwarteten Haken, nachdem er mit „Goodfellas“ (1990, Anniversary-Text) und „Cape Fear“ (1991, Anniversary-Text) eben diese Erwartungen bestens bedient hatte. Wirkt „The Age of Innocence“ mit seinen vielen intimen, dialoglastigen Szenen voll unterdrückter Emotionen noch auf den ersten Blick untypisch für Scorsese, so entpuppt er sich bei näherem Hinsehen als absolut zentraler Fixpunkt im Schaffen des Regisseurs.
Scorsese adaptierte gemeinsam mit Jay Cocks die pulitzerpreisgekrönte Romanvorlage von Edith Wharton von 1920, in der die aufkeimende Leidenschaft zwischen dem Rechtsgelehrten Archer (Daniel Day-Lewis) und der europäischen Adeligen Ellen (Michelle Pfeiffer) letztlich unerfüllt bleibt und Archer eine quasi arrangierte Ehe mit der jungen May (Winona Ryder), einer Tochter aus bestem Hause, eingeht. Die Zwänge, die innerhalb der New Yorker Oberschicht in den 1870er Jahren auf Archer, Ellen und May einwirken, drücken sich in „The Age of Innocence“ nicht in expliziter verbaler oder physischer Gewalt aus, sondern in den rigide einzuhaltenden Kleidungs- und Verhaltenskodizes, die sich auf alle Lebensbereiche erstrecken. Das Überwachen der Regeln und das Verhängen von Sanktionen, sollten sie übertreten werden, obliegt äußerlich sanftmütigen, aber letztendlich unnachgiebigen Autoritätsfiguren dieser Gesellschaft. Es bleibt indessen nicht bei einer elegisch-melancholisch gestimmten Kostümfilm-Adaption in erlesenen Bildern, wie sie etwa das Merchant-Ivory-Team in jenen Jahren vorlegte. Scorsese und sein Kameramann Michael Ballhaus verstehen es, in entscheidenden Momenten immer wieder Referenzen an die (eigene) Filmgeschichte zu plazieren und damit eine ironische Distanz aufzubauen: ein Tracking Shot durch die verwinkelten Vorräume eines Ballhauses (wie durch die Restaurants in „Mean Streets“ oder „Goodfellas“), Rot- oder Gelb-Blenden, Nahaufnahmen von luxuriösen und symbolisch konnotierten Objekten, Irisblenden auf einen Bildausschnitt, Montagesequenzen, in denen Filmbilder und zeitgenössische Gemälde ineinander übergehen. Vermittels der visuellen Pracht, des elaborierten Voiceovers einer allwissenden Erzählerin sowie der spätromantisch anmutenden orchestralen Filmmusik wird ein dichtes Gewebe sinnlicher Reize geschaffen, das als ausladendes Epochenportrait funktioniert, jedoch auch das gleichsam verborgene Korsett der Konventionen jener Zeit in seinen oberflächlich harmlosen Ausprägungen entfaltet: Die Familien von Archer und May verstehen es, Archers und Olenskas unschickliche Verbindung zu verhindern, ohne daß dies je expliziert formuliert wird – allein durch indirektes, verborgenes Taktieren wird der aus der Bahn geworfene Archer zurück auf den vorbestimmten Pfad seines Standes gezwungen.
Scorsese sollte sich dieser amerikanischen Epoche mit „Gangs of New York“ (2002) noch einmal aus ganz anderer Perspektive, nämlich „von unten“ widmen und damit den Historien- und den Gangsterfilm auf originelle Weise zusammenführen, „The Age of Innocence“ dagegen steht ganz in der Tradition des klassischen US-Historiendramas im Geiste von „The Magnificient Ambersons“. Der Film ist bei Sony auf DVD und Blu-ray (Fassungseintrag) erschienen, allerdings ohne Bonusmaterial. Für die Blu-ray in den USA und in Großbritannien (Fassungseintrag) hat die Criterion Collection dagegen neue Interviews mit den Filmschaffenden und weitere Extras spendiert.
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