L'homme qui ment (1968)
Bereits 1966 hatte der Schriftsteller und Regisseur Alain Robbe-Grillet (dessen Todestag sich gestern zum zehnten Mal jährte) mit „Trans-Europ-Express“ eine originelle Methode entwickelt, mit den Konventionen von Filmgenres und Filmnarrationen zu spielen (siehe den entsprechenden Anniversary-Text von PierrotLeFou). Mit „L’homme qui ment“, der am 27. März 1968 in den französischen Kinos anlief, sollte Robbe-Grillet den eingeschlagenen Pfad konsequent weiterverfolgen, nicht ohne jedoch seine Prämissen zu verschärfen und damit für das Publikum erneut ein sowohl intellektuell als auch erotisch stimulierendes Labyrinth zu erschaffen.
Daß „L’homme qui ment“ in mancher Hinsicht eine Fortsetzung von „Trans-Europ-Express“ ist, macht nicht nur die erneute Hauptrolle von Jean-Louis Trintignant deutlich. Nach der De- und Rekonstruktion des Kriminalfilms ist es nun das Genre des Kriegs- oder Widerstandsfilmes, dessen Standardsituationen Robbe-Grillet genußvoll zitiert, um sie zugleich ad absurdum zu führen. Trintignant verkörpert die undurchschaubare Titelfigur: er ist der Mann, der lügt, wenn er – Ort und Zeit bleiben hier unbestimmt, doch die feindlichen Besatzer tragen Wehrmachtsuniformen – ein Grenzdorf erreicht und erzählt, wer er ist und woher er kommt. Er nennt sich Boris Varissa und war Kamerad des im Dorf verehrten Widerstandshelden Jean Robin, doch was genau geschehen ist und ob Boris oder Jean nun Helden, Verräter oder die gleiche Person sind, variiert bei jeder Gelegenheit, bei der Boris die Geschichte erzählt. Das Ziel seiner Selbstdarstellung ist die Verführung dreier attraktiver Mädchen (Jeans Frau, Jeans Schwester und ein Zimmermädchen), die sich in einem alten Schloß homoerotischen Liebkosungen widmen und sich Boris vielleicht oder tatsächlich hingeben… Doch es ist die Kamera selbst, die bereitwillig für jede Version von Boris‘ Geschichten immer neue Rückblenden zur Verfügung stellt. Nichts deutet für den Zuschauer darauf hin, welche der Versionen wahr sein könnte oder ob überhaupt eine wahre dabei ist, nicht einmal die Tode, die Boris zu Beginn und zum Ende des Films stirbt, sind verläßlich. Tonspur und Voiceover widersprechen gelegentlich dem, was die Bilder zeigen, und überhaupt bedient sich Robbe-Grillet aller nur denkbarer cineastischer Methoden, um dem Zuschauer den Boden der Gewißheit unter den Füßen wegzuziehen. Damit fällt die rückversichernde narrative Rahmung weg, die in „Trans-Europ-Express“ noch gegeben war, in „L’homme qui ment“ könnte alles, was zu sehen und zu hören ist, eine Lüge sein – von Boris, Jean oder natürlich von Robbe-Grillet selbst.
Damit trägt „L’homme qui ment“ die unverkennbare Handschrift seines Verfassers und ist ein hochintelligentes und sinnliches Vexierspiel, eine Zurschau- und Infragestellung der erotischen Verführungskraft von Heldengeschichten und -figuren, zugleich ein Kommentar zu einem Filmgenre und zur Art und Weise, wie der noch nicht lange zurückliegende Weltkrieg im Populärmedium des Kinos verhandelt wird. In Deutschland ist der Film leider nicht verfügbar, in Großbritannien ist er jedoch in einem mustergültigen Robbe-Grillet-Boxset als Blu-ray (Fassungseintrag) oder DVD erhältlich.
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