Sumurun (1920) & Anna Boleyn (1920)
Selbst ein kursorischer Blick auf Ernst Lubitschs umfangreiche Filmographie läßt deutlich werden, daß starke Frauen den Regisseur immer interessiert haben und ein Großteil seiner Filme, auch und vor allem aus der Stummfilmzeit, direkt oder indirekt Portraits weiblicher Helden sind. Allein im unfaßbar produktiven Jahr 1920 brachte Lubitsch – neben weiteren mittellangen und kurzen Filmen – am 1. September mit „Sumurun“ und am 3. Dezember mit „Anna Boleyn“ zwei Langfilme ins Kino, die um zentrale Frauenfiguren kreisen. Beide Titelfiguren haben gemeinsam, daß sie nicht etwa selbstbestimmte und aktive Charaktere sind, wie sie Lubitsch gern portraitierte, sondern Opfer ihrerer jeweiligen historischen Umstände.
„Sumurun“ schwelgt auf den ersten Blick ganz in der damals in Europa üblichen Darstellungsweise des arabischen Kulturraums, die rückblickend als Orientalismus bezeichnet wird und die Elemente des Geheimnisvollen, Märchenhaften, Exotisch-Erotischen (über-)betont. Mithin ist „Sumurun“ eine teils absurd verwickelte Geschichte um Sex, Macht und Eifersucht, die aus Tausendundeiner Nacht stammen könnte, in verschwenderisch ausgestatteten Bildern, in weitläufigen Kulissen und mit einer Vielzahl von Statisten. Dabei verschwindet die Titelfigur, die eher passive Sklavin Sumurun (Jenny Hasselkvist) beinahe hinter der von Pola Negri dargestellten Tänzerin Yannaia und ihrer aggressiven Laszivität. Doch Yannaias Sexappeal, der sie zunächst überlegen scheinen läßt, gereicht ihr schließlich zum Verderben, denn nicht etwa sie, sondern die Männer, die sie begehren, treiben den Plot voran, der tragische und komische Elemente in unvorhersehbarer Weise kombiniert. Lubitsch läßt es sich nicht nehmen, selbst die tragende Rolle eines mißgestalteten Schaustellers zu spielen, und vor allem in seiner großartig chargierten Sterbeszene bekommt der Film eine heftige Schlagseite zur Farce. Mittels solcher augenzwinkernden Momente stellt Lubitsch das Unwirkliche von „Sumurun“ aus und markiert den Film als die Phantasmagorie, die er letztendlich ist.
Dagegen ist „Anna Boleyn“ eine „echte“, ganz unironische Tragödie über die zweite Ehefrau des notorischen englischen Königs Heinrich VIII., in der der Lubitsch-Humor nur in wenigen Details aufblitzt. Mit erstaunlicher Akuratesse in Kulissen und Kostümen und mit offenbar immensem Aufwand wird der Königshof aus dem 16. Jahrhundert zum Leben erweckt, die Ähnlichkeit von Emil Jannings mit den zeitgenössischen Darstellungen Heinrichs ist verblüffend. Immer wieder dominieren symmetrische, beengte Bildkompositionen und symbolisieren die gesellschaftlichen Zwänge bei Hofe, denen Anna Boleyn (Henny Porten) ausgeliefert ist. Sie ist Spielball der Mächte und gerade als Frau ausschließlich Objekt: der Begierde Heinrichs, der Geltungssucht ihres Onkels, des Dünkel und der bigotten Verachtung des Hofes (erst als Hure, dann als unrechtmäßige Königin) und schließlich des Mißtrauens ihres wahren Geliebten. Der infantilen Dreistigkeit des Machthabers kann sich niemand entgegenstellen, erst recht nicht eine Frau, deren vorrangige Funktion es ist, die königliche Erbfolge zu sichern und männliche Nachkommen zu produzieren. Auch der heutige Zuschauer empfindet Empörung über diese schreiende Ungerechtigkeit der Verhältnisse und kann sie ohne weiteres auf die Gegenwart übertragen.
Mit „Sumurun“ und „Anna Boleyn“ bewies nicht nur Lubitsch (wieder einmal), daß er neben kurzen Komödien auch teure Großproduktionen in historischen Settings pünktlich fertigstellen konnte. Die Filme sind zugleich auch eine beeindruckende Leistungsschau der deutschen Filmindustrie jener Jahre, die damals weltweit an der Spitze lag. Beide Werke sind günstig in Großbritannien im verdienstvollen Blu-ray-Set „Lubitsch in Berlin“ von Eureka! zu haben, in restaurierter Form und mit vorzüglicher Klaviermusikbegleitung.
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