The Baby of Mâcon (1993)
Peter Greenaway, einer der verläßlichsten europäischen Arthouse-Lieferanten seit den 80er Jahren, hat sich besonders um den Diskurs des künstlerischen Sehens verdient gemacht: seine Arbeiten versuchen immer wieder, die Grenzen der traditionellen visuellen Erfahrung zu sprengen und sie interdisziplinär zu erweitern. Er selbst kam von der Malerei und Grafik zum Film und experimentiert bis heute mit den Möglichkeiten des starren und des bewegten Bildes. Eine seiner bevorzugten (und zum Markenzeichen gewordenen) visuellen Techniken ist die langsame Kamerafahrt entlang visuell opulenter Inszenierungen, die malerischen Tableaus gleichen, und sein Spielfilm „The Baby of Mâcon“ steht beispielhaft für diesen Stil. Doch als der Film am 17. Mai 1993 in Cannes Premiere feierte, waren die Stimmen der Kritiker geteilt, was hauptsächlich am kontroversen Sujet des Films lag.
Greenaway, der sich inhaltlich genau so intensiv mit persönlichen Obsessionen wie mit aktuellen gesellschaftspolitischen Trends auseinandersetzt, erfindet in „The Baby of Mâcon“ die Legende eines Wunderkindes, das im 17. Jahrhundert zu Zeiten der Dürre geboren wird und als Zeichen für neue Fruchtbarkeit angesehen wird. Doch den Autor und Regisseur Greenaway, der das Ereignis als Theaterstück-im-Film zu Zeiten der Gegenreformation spielen läßt, interessiert hier vor allem die Ausbeutung des Wunders durch die Gesellschaft: zuerst versucht die ältere Schwester des Kindes (Julia Ormond in ihrer ersten Kinorolle) zu profitieren, indem sie sich als jungfräuliche Mutter inszeniert, doch dann greift der Klerus selbst ein, beansprucht das Kind für sich und straft die Mutter grausam, als sie das Kind getötet hat. Die Leiche des Kindes wird stückweise als Reliquie vom Volk einverleibt. Diesen blutrünstigen Plot, der sich an historischen Vorbildern orientiert und zugleich deutlich auf Medienphänomene des 20. bzw. 21. Jahrhunderts verweist, inszeniert Greenaway mithilfe seines Stammkameramannes Sacha Vierny mit äußerster Kunstfertigkeit und beeindruckt mit an sakrale Heiligendarstellungen gemahnenden Bildern, mit bis zu zehnminütigen Plansequenzen sowie mit einer überquellenden Fülle an Kostümen und Ausstattung. Zugleich führt er in drastischer Deutlichkeit die blutigen und abstoßenden Details der Geschichte vor Augen, nicht ohne jedoch immer wieder vermittels brechtscher Distanzierung spielerisch an den Performancecharakter des Dargestellten zu erinnern. Trotzdem brachte das gleichnishafte „The Baby of Mâcon“, das schonungslos die Ikonographie, Tropen und Mythen vor allem des Katholizismus zitiert, das Publikum und natürlich die Kirche gegen sich auf (in Nordamerika hat sich daher bis heute kein Verleiher des Filmes angenommen). Doch selbst wenn man Greenaway seinen Hang zum Selbstzitat oder gezielte Publikumsprovokation vorwerfen könnte, kommt man nicht umhin, der Vielschichtigkeit, der Unterhaltsamkeit und dem Verve seines Aussagewillens Respekt zu zollen.
„The Baby of Mâcon“ wurde in Deutschland nach 20-jähriger Durstrecke vom Nischenlabel FilmConfect auf DVD herausgebracht (Fassungseintrag), in Skandinavien ist der Film auch als Blu-ray (Fassungseintrag) erhältlich. Greenaway, der immer gern Auskunft zu seinen Werken gibt und überhaupt gern spricht und sprechen läßt, äußert sich in diesem Filmtabs-Interview von 1993 zu seinen Motivationen und zur Entstehungsgeschichte des Films.
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