Short Cuts (1993)
Nachdem sich der Independent-Regisseur Robert Altman mit dem Erfolg von „The Player“ (1992, Anniversary-Text) wieder zurück ins Bewußtsein der amerikanischen Filmwelt katapultiert hatte, feierte bereits eineinhalb Jahre später, am 4. September 1993 beim Filmfestival in Venedig sein vielleicht bekanntestes Werk Premiere. „Short Cuts“, ausgezeichnet mit dem Goldenen Löwen und weiteren Preisen, gilt bei Kritik und Publikum bis heute als triumphaler Höhepunkt im umfangreichen Filmschaffen des damals bereits 68 Jahre alten Regisseurs. Und wirklich kondensiert die komplexe Tragikomödie, die zugleich ein beredtes Portrait der USA in den 1990er Jahren ist, den narrativen und visuellen Altman-Stil auf exemplarische Weise.
Neun Kurzgeschichten und ein Gedicht des amerikanischen Dichters Raymond Carver, der als Meister der kurzen Form gilt und wenige Jahre zuvor gestorben war, bilden die literarische Grundlage für „Short Cuts“. Carver, der seine Sujets im Alltagsleben der weniger privilegierten Klassen suchte und fand, hatte die Short Stories unabhängig voneinander veröffentlicht, und es gelang Altman und seinem Koautor Frank Barhydt, diese ins sommerlich flirrende Los Angeles zu verlegen und auf originelle und elegante Weise zu verweben. Über 20 Hauptdarsteller, die sich aus gestandenen Stars (Jack Lemmon) und spielfreudigen Newcomern (Robert Downey Jr.) rekrutieren, bilden das gewaltige Ensemble für eine Comédie humaine, die alle gesellschaftlichen Schichten umfaßt und dabei nie unübersichtlich wird. Geschickt balanciert das Drehbuch zutiefst dramatische Episoden mit leichthumorigen, teils fast boulevardesken Szenen aus – Altman schließt damit direkt an seinen Erzählstil der 70er Jahre an, der in „Nashville“ (1975) seinen Höhepunkt fand. Mittels motivischer Spiegelungen und Wiederholungen, Sound Bridges und eines beinahe ununterbrochenen Hintergrund-Geräuschteppichs (der in Form von Fernsehbildern und Jazzsongs das Geschehen quasi kommentiert) verbindet „Short Cuts“ Carvers thematische Fixpunkte: latente und manifeste Aggression, dysfunktionale Paar- oder Eltern-Kind-Beziehungen, Alltagsmoral, Alkoholismus. Doch Altman war nie ein schwermütiger Moralist, und so enden die meisten der Episoden in einem versöhnlichen Ton, ohne noch die fragwürdigsten Charaktere wohlfeiler Häme preiszugeben. Eine besondere Rolle in Altmans Leben und auch in diesem Film spielt die Musik, weshalb unter den Darstellern viele „echte“ Musiker zu finden sind, allerdings werden nur Annie Ross und Lori Singer tatsächlich musikalisch aktiv: in Altmans Erweiterung des carverschen Figurenkosmos bilden sie ein (auch musikalisch) gegensätzliches Mutter-Tochter-Paar.
Der stets leichtfüßige Erzählfluß erweckt den Eindruck, als könnte „Short Cuts“ trotz seiner über drei Stunden Spielzeit einfach immer weitergehen. Der Einfluß, den der Film bis heute ausübt, ist nicht zu unterschätzten: etwa Paul Thomas Anderson „Magnolia“ (1999) ist ein beinahe unverhohlene Referenz an Altmans Film, auch Haggis‘ „Crash“ (2004) oder Iñárritus „Babel“ (2006) sind mehr oder weniger direkte Nachfahren von „Short Cuts“. Leider sind die in Deutschland erschienen DVD-Ausgaben des Films derzeit vergriffen, Abhilfe bietet das englischsprachige Ausland: hier ist besonders die reichlich mit Extras ausgestattete US-Blu-ray der Criterion Collection (Fassungseintrag) zu empfehlen.
Registrieren/Einloggen im User-Center