L'inde fantôme (1969) & Calcutta (1969)
Nach frühen Kurzfilmen und der Ko-Regie bei "Le monde du silence" (1956) ist Louis Malle vor allem mit den Filmen "Ascenseur pour l'échafaud" (1958), "Les amants" (1958), "Zazie dans le métro" (1960) und "Le feu follet" (1963) zu einem der gewichtigsten Namen der Nouvelle Vague avanciert – blieb aber ähnlich wie die Rive-Gauche-Vertreter (Marker, Resnais, Varda) ein Vertreter der zweiten Liga, da er nicht im Umkreis von Truffaut, Godard, Chabrol oder Rivette und als Autor der Cahiers du cinéma zur Filmarbeit fand, da er sich zur Hochzeit der Nouvelle Vague nur selten in Paris befand, da er sich letztlich auch nur wenig für einen betont cineastischen Zugang zum Filmemachen interessierte. Mit 14 sammelte Malle erste Amateurfilm-Erfahrungen, vor dem Langfilmdebüt war er bereits als Assistent tätig; als Student der politischen Wissenschaften brachte er eine Weltsicht mit sich, die von den cinephilen Anschauungen reinrassigerer Nouvelle-Vague-Kollegen abwich (aber auch nicht die Radikalität der Rive-Gauche-Vertreter erreichte). Dennoch brachte auch Malle mit seinen Inhalten und Formen frischen Wind in die Kinos, dennoch zeigte sich auch Malle schon im Debüt vom film noir beeinflusst. Beeinflusst hat ihn (wie auch einige andere Nouvelle-Vague-Vertreter) in den dokumentarischen Arbeiten auch das Cinéma vérité: Seine Indien-Filmen lassen diesen Einfluss erkennen, den er allerdings ganz ähnlich seinen eigenen Ansätzen anpasst wie es z.B. auch Chris Marker in "Le joli mai" (1963) getan hatte. Malle geht jedoch noch weit radikaler vor und hat ideologisch gesehen nur noch wenig mit dem Cinéma vérité gemein, dessen Formen & Mittel aber deutlich durchscheinen.
Zwischen November 1967 und April 1968 drehte Malle in zwei Blöcken in Indien – und sammelte dabei 25 Stunden Filmmaterial an. Davon montierte er immerhin ein gutes Drittel zu zwei Werken: zum Dokumentarfilm "Calcutta", der am 16. April 1969 seine Uraufführung erlebte, und zur Serie "L'inde fantôme", die vom 25. Juli 1969 an zu sehen war. Zeigten sich hierzulande einige Kritiker enttäuscht und attestierten den Filmen eine teilweise allzu große Nähe zum typisch-unkritischen Kulturfilm, der den eigenen Blick auf das Fremde nicht adäquat mitdachte, so lobte man andernorts gerade den persönlichen Zugang, der den Film deutlich als Blick eines Europäers auf Indien ausweisen würde; und auch in Malles Sicht waren seine Indien-Filme seine persönlichsten Werke. Da Malle jedoch kaum über eine eigene Handschrift verfügte, mag solch ein Statement nicht ganz nachvollziehbar sein. Sein Interesse am Leben selbst, sein Misstrauen gegenüber klassisch dramaturgisch geordneten Erzählungen – denen er um 1967 etwas überdrüssig geworden sein soll – scheint indes den Griff zum Dokumentarfilm nahegelegt zu haben, wenngleich Malle diese Form nur selten wählte. Und so sind die Indien-Filme ausgiebig beobachtende Filme, deren großes Interesse am "Schleier der Maia" deutlich spürbar ist, was Malle aber nicht davon abhält, die reichhaltigen Eindrücke vage nach Themen und Motiven zu ordnen – darunter allerlei Krankheit, Armut und Elend, was Malle später zu einer Persona non grata in Indien werden ließ (und ihm auch einigen Ärger aus Großbritannien einbrachte). So spontan und improvisiert Malle und sein Kameramann Étienne Becker in Indien filmten, so sehr kommentierte Malle den Film auch aus dem Bauchgefühl heraus: Bisweilen liefert er Fakten und recht neutrale Hinweise, bisweilen sehr subjektive Überlegungen – und vor allem betonte er immer wieder, dass er die Bilder selber sprechen lassen wollte. Dieses quasi improvisierte Konzept geht zwar über die mehrstündige Laufzeit hinweg nicht immer völlig auf, liefert aber eine anregende Fülle und Reichhaltigkeit, die gerade zum Entstehungszeitpunkt ihresgleichen suchte. Gerade seit der Wiederentdeckung auf den Heimmedien haben sich die Indien-Filme (nun auch hierzulande) einen doch sehr positiven Ruf verschaffen können: dass sie oftmals als Einschnitt in Malles Schaffen gewertet werden, der ihn zu weit freieren Formen geführt hätte, mag an dieser gerade im Rückblick entstandenen Wertschätzung großen Anteil haben.
Beide Werke sind sowohl in Criterions Eclipse Series zu bekommen (Fassungseintrag von Phileas) oder in der Indien-Box von Pierrot Le Fou (Eintrag von gül).
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