Raskolnikow (1923) & I. N. R. I. (1923)
Am 27. Oktober 1923 kam Robert Wiene seine Dostoevsky-Verfilmung "Raskolnikow" heraus. Wienes Meisterstück, "Das Cabinet des Dr. Caligari" (1920) lag da bereits drei, eher schon vier Jahre zurück. Wienes "Genuine" (1920) und seine übrigen Filme der Jahre 1920 bis 1922 sind heute weitgehend vergessen und konnten zu ihrer Zeit zumindest nicht an den immensen Erfolg von "Das Cabinet des Dr. Caligari" anknüpfen. Was nicht verwundert, wenn man bedenkt, dass Wiene eine relativ geringe Rolle am Gelingen dieses Film zugesprochen wurde, der seine Qualitäten eher manch anderen Beteilgten verdankte. Erst ab 1923 entstanden dann wieder prestigeträchtigere Wiene-Filme, die noch heute das Interesse von Stummfilmliebhaber(inne)n auf sich ziehen. "Raskolnikow" steht in dieser Hinsicht an erster Stelle: Hier trifft Dostoevskys packende, berühmte (und damals noch keine 60 Jahre alte) Geschichte seines Romans "Prestupléniye i nakazániye" (1866, Schuld und Sühne) auf den Expressionismus des deutschen Stummfilms, der ausreichend kraftvoll für solch einen Stoff daherkommt. Das Spiel mit Licht und Schatten scheint dabei eher die Extreme und die innere Zerrissenheit der Titelfigur zu betonen, die nach ihrem scheinbar zu rechtfertigenden Mord einen langen Weg vor sich hat, ehe sie sich am Ende ihrer Strafe fügt. Damals wie heute wurde Wienes "Raskolnikow" weitestgehend positiv beurteilt: "Raskonikow" scheint mit Bauten von André Andrejew und den Darsteller(inne)n des Tschechow-Kunsttheaters Moskau zu liefern, was man sich nach "Das Cabinet des Dr. Caligari" erhoffte. "Das Cabinet des Dr. Caligari" war im Grunde bereits die eher zufällig zustandegekommene Geschichte einer (ausbleidenden, nicht gelingenden) Selbsterkenntnis, deren tragisches Scheitern dem Publikum aber offenbart wird; die Geschichte einer Hauptfigur, die im Wahn das eigene Fehlgeleitetsein in einen fremdbestimmten Somnambulen projiziert. In "Raskolnikow" dagegen wird man nun Zeuge des Gelingens einer Selbsterkenntnis, die einen langen, quälenden Prozess darstellt, mit Hilfe von außen zustandegebracht. Hier wird anders als in "Das Cabinet des Dr. Caligari" Schuld klar (an)erkannt; hier wird Gerechtigkeit angestrebt werden.
Stil und Inhalt harmonieren hier so hervorragend, dass es kaum verwundert, dass Wiene einen ähnlich gelagerten Film folgen ließ: "I. N. R. I." sollte nach dem gleichnamigen Roman Peter Roseggers die Passionsgeschichte bemühen, um einen Attentäter klaren Kopf über seine Schuld und seine Sühne gewinnen zu lassen. Geblieben ist von diesem Unterfangen wenig: es ist ausschließlich das Passionsspiel, das nun geschildert wird; passend zur Weihnachtsteit, in der "I. N. R. I." im Dezember 1923 uraufgeführt wurde. Aber auch hier wird am Ende das Martyrium anwesende Augenzeugen läutern. Doch ebenso wie diese Geschichte über weniger innere Spannung verfügt, kommt auch der expressionistische, eher bloß expressive Stil weniger kräftig daher als noch in "Raskolnikow". Anleihen bei der Kunstgeschichte, Massenszenen und das immense Starangebot, zu dem etwa Henny Porten, Werner Krauss, Asta Nielsen und Alexander Granach gehören, reizen daher am ehesten an diesem Film, der die Linie des "Raskolnikow" vergeblich fortzusetzen trachtet.
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