Nanook of the North (1922)
Dass im Jahr 2018 in einem Film wie "Ága" (2018) die im sibirischen Norden lebende Hauptfigur – im deutschen und englischen Sprachraum zugleich auch die Titelfigur – Nanouk bzw. Nanook heißt, war ein direkter Verweis auf Robert J. Flahertys "Nanook of the North", der zu diesem Zeitpunkt immerhin 96 Jahre zurücklag, aber nicht in Vergessenheit geraten ist, sondern mit jedem Jahr mehr bewies, dass er längst eine Legende geworden ist, die auch in den nächsten Jahrzehnten sicherlich nicht so schnell vom Vergessen bedroht sein wird.
Der am 11. Juni 1922 uraufgeführte Dokumentarfilm Flahertys ist aus vielen Gründen bis heute von Interesse: sicherlich aus historischer Perspektive als frühes Beispiel ethnographischen Filmschaffens, aus filmtheoretischer Perspektive als Grenzfall zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm (und Propaganda) – zwischen Fakt, Fiktion und Lüge oder Manipulation –, aus ästhetischer Perspektive als ein Musterbeispiel für die Vorteile einer durchgehaltenen Einstellung gegenüber einer montierten Sequenz... Flaherty ließ für diesen Film den Inuit Allakariallak seinen eigenen Alltag vor der Kamera zelebrieren, nahm aber entscheidende Änderungen vor, änderte den Namen in den heute so legendären, publikumswirksameren Nanook, ließ Allakariallak Gepflogenheiten seiner Ahnen übernehmen, die in seinem tatsächlichen Leben längst keine Rolle mehr spielten, ließ ihn den Errungenschaften der Moderne ferner stehen, als es tatsächlich der Fall war, inszenierte ein Familienleben rund um seine Figur, ließ Jagd- und Kampfszenen nachstellen und passte die Gefahren des Alltags an eine zugespitzte Spannungsdramaturgie an. Nach heutigen Maßstäben muss man wohl attestieren, dass der Film in seinen weniger rühmlichen Momenten so widerwärtig agiert wie so manches Reality-TV-Format mancher Privatsender. "Nanook of the North" ist eben ein Kind seiner Zeit. Wer sich damit arrangieren kann, bekommt allerdings einen Film geliefert, der als dokumentarisch auftretender Unterhaltungsfilm funktioniert, der die Mittel der Dramatisierung, die den authentischen Eindruck nicht überlagert, perfekt beherrscht und damit zu den Ursprüngen heutiger Natur-Dokus gezählt werden kann, der bestehende Klischees bezüglich der Inuit endgültig verfestigte...
Bei absolut Medien liegt der lange bloß fragmentarisch erhaltene Film für kleines Geld auf DVD vor: Fassungseintrag von brokenpromisering
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