Beitrag

von ratz

Vor 50 Jahren: Frantisek Vlacil erweckt das Mittelalter zum Leben

Stichwörter: 1960er Drama Historienfilm Jubiläum Kemr Klassiker Liska Literaturverfilmung Nová-vlna Spielfilm Tschechoslowakei Vancura Vásárová Vlácil

Marketa Lazarová (1967)

Diese Frage muß sich jeder Historienfilm gefallen lassen: bringt er uns die Weltbilder und die Denkart vergangener Epochen nahe, oder gleicht er die Rede- und Handlungsweisen der historischen Personen eher unseren eigenen an? Kann man etwa Menschen des Mittelalters authentisch porträtieren, ohne sie völlig unzugänglich erscheinen zu lassen? Kompromisse gehen hier wohl die meisten Filmemacher ein, kaum einer jedoch so wenige wie der Regisseur Frantisek Vlacil, als er am 24. November 1967 „Marketa Lazarová“ in die tschechoslowakischen Kinos brachte. Dieser Film über eine gnadenlose Familienfehde im ungefähr 13. Jahrhundert schafft es wie nur wenige andere seiner Gattung, das Mittelalter nicht nur mittels Brutalität und Schmutz, sondern über die Zeichnung epochenspezifischer Charaktere zu evozieren. Das können sonst nur Bergmans „Das siebente Siegel“, Tarkowskis „Andrej Rubljow“ oder Borowczyks "Blanche" von sich behaupten.

Vlacil verfilmte in einem fast drei Jahre währenden Kraftakt die gleichnamige Vorlage seines Landsmannes Vladislav Vancura und übersetzt deren experimentelle narrative Struktur und poetische Sprache in die Mittel der Filmkunst. Das Ergebnis nennt er im Vorspann „Film-Rhapsodie“ und wird dieser Charakteristik (bruchstückhafte, episodisch zusammengesetzt, volkstümlich) in „Marketa Lazarová“ mehr als gerecht: die Handlung springt gelegentlich zwischen den Zeitebenen, die Figuren, etwa die titelgebende Marketa (Magda Vásárová) oder das alte Familienoberhaupt Kozlík (Josef Kemr), sind quasi anti-psychologisch angelegt und folgen einer eigenen, dem Zuschauer oft opak bleibenden Motivation – leben sie doch in einer Welt, in der das Christentum sich gegen heidnische Bräuche noch nicht durchgesetzt hat und die Beziehung zwischen Mensch und Tier enger sein kann als diejenige zur Familie, zum König oder zu Gott. Unterstrichen wird die Zeichnung dieses vorzeitlich und roh anmutenden Panoramas durch den Einsatz einer anspruchsvollen visuellen Dynamik, denn die sorgfältig komponierten Cinemascopebilder laden nicht zum Verweilen ein, sondern desorientieren durch ungewöhnliche Kadrierungen, unruhigen Handkameraeinsatz und schnelle Schnitte. Auch die Tonspur attackiert nahezu unentwegt: die nachsynchronisierten Mono- und Dialoge sind fast immer mit einem Hall unterlegt und stimmen oft nicht mit den Mundbewegungen der Sprecher überein, was ihnen eine abgelöste, traumartige Qualität verleiht. Die (wie immer) bemerkenswerte Filmmusik von Zdenek Liska verknüpft archaische und avantgardistische Idiome zu einem reichhaltigen akustischen Pastiche in der Tradition von Carl Orff, das lange in den Ohren nachhallt.

„Marketa Lazarová“ war in Westeuropa lange Zeit ein Geheimtip, bis vor zehn Jahren die erste britische DVD erschien. Inzwischen wurde der Film jedoch restauriert und ist auch in hochauflösender Qualität zu haben, bei uns vom verdienstvollen Label Bildstörung, das den Film im letzten Jahr nicht nur erstmals in die deutschen Kinos brachte, sondern auch als Blu-ray (Fassungseintrag) und DVD (Fassungseintrag), reichhaltiges und profundes Bonusmaterial inklusive, veröffentlicht hat. Daß der Film in seiner formal anspruchsvollen Gestaltung und erratischen Charakterzeichnung nicht für jeden Zuschauer sofort zugänglich ist, macht das Wiederaufführung-Podcast, u.a. von und mit MMeXX, auf unterhaltsame Weise deutlich.


Kommentare und Diskussionen

  1. Noch keine Kommentare vorhanden

Um Kommentare schreiben zu können, müssen Sie eingeloggt sein.

Registrieren/Einloggen im User-Center

Details
Ähnliche Filme