Körkarlen (1921)
Am 1. Januar 1921 kam jener Film Victor Sjöströms in die Kinos, der heute bei weitem sein bekanntester Streifen ist. Die Qualität der literarischen Vorlage Selma Lagerlöfs, die durchaus beachtliche inszenatorische Reife, der gute Ruf: Dies alles dürfte sicher dazu beigetragen haben, aber vor allem dürfte es am phantastischen Sujet und der Kanonisierung des Films im Horror-Genre liegen, dass "Körkarlen" etwa auf der IMDb über 10.000 Bewertungen erhalten; "The Wind" (1928) hingegen kommt auf gerade einmal 6.000 Wertungen, "He Who Get's Slapped" (1924) auf 3.100 und die früheren großen Stummfilmklassiker seines schwedischen Hauptwerks kommen zum Teil nicht einmal auf 100 Wertungen. Der Film, den man in seiner Heimat 2012 zum besten Film der schwedischen Filmgeschichte wählte, erlebte nicht grundlos am Neujahrstag seine Premiere, denn die Handlung von "Körkarlen" selbst beginnt in der Silvesternacht, als die fromme Heilsarmee-Schwester Edit trotz geringen Alters im Sterben liegt und auf dem Sterbebett noch einmal David Holm sprechen möchte. Doch besagter David (Victor Sjöström) ist ein verantwortungsloser Säufer, der das Gesuch ausschlägt und darüber in einen Streit mit den Boten gerät. Er wird niedergeschlagen und nach seinem Erwachen hebt sich seine Seele aus seinem Leib empor, just als der Fuhrmann des Todes vor ihm steht, der in dieser Nacht die Seelen der Verstorbenen einsammelt. Der Fuhrmann ist der im Vorjahr verstorbene Georges, der den Sünder David nun schweren Herzens zu seinem Nachfolger für das neue Jahr benennen muss. Es folgt eine Läuterungsgeschichte, wie man sie aus Capras "It's a Wonderful Life" (1946) oder Dickens "A Christmas Carol" (1843) samt Verfilmungen kennt: David bekommt seine Verfehlungen vorgeführt, das Publikum Davids Beziehung zu Edit. Doch Lagerlöfs Stoff ist wesentlich schwermütiger und das Happy End ist hier lediglich die Reue und die Vergebung am Sterbebett der jungen Frau, die am Ende in Frieden geht und damit auch David von seinem Los erlöst. Den moralisierenden Ansatz dämpft hier auch eine morbide, teils unheimliche Atmosphäre, die von Geisterkutschen, Friedhofssettings und dunklen Winternächten lebt. Insgesamt jedoch ist "Körkarlen" mit seinem Handlungsort weit weniger rustikal als vorangegangene Lagerlöf-Verfilmungen Sjöströms (oder Stillers). Tricktechnisch ist das Ganze richtungsweisend mit großem Aufwand umgesetzt worden: das Reisen der halb im Meer versunkenen Geisterkutsche etwa zählt zu den kleinen Höhepunkten diesbezüglich, die Sjöström mit seinem Kameramann Julius Jaenzon stemmte, der auch bei Mauritz Stiller viel zur Qualität der Werke beigetragen hat.
Bei absolut Medien liegt der Film auf (vergriffener) DVD als 1995er Restauration samt des Fragments "Dödskyssen" (1916) vor (Fassungseintrag von wolfsmond), jüngere Restaurationen mit längerer Laufzeit sind in Schweden oder im englischsprachigen Raum zu bekommen: Criterion bietet sie in gewohnt hochwertiger Qualität und superb ausgestattet auf Blu-ray an (Fassungseintrag von MMeXX), Tartan liefert sie gemeinsam mit Ingmar Bergmans "Bildmakarna" (2000) (Fassungseintrag von Vergil666), einem (nicht unbedingt herausragenden) TV-Spielfilm über Sjöströms Beziehung zu Selma Lagerlöf. (Bergman übrigens, der Sjöströms Film über Jahre hinweg einmal jährlich gesehen haben will, ließ Sjöström in "Smultronstället" (1957) eine nicht unbedingt ähnliche, aber dennoch an "Körkarlen" angelehnte Rolle spielen: die des gealterten Professors Lund, der am 50. Jahrestag seiner Promotion sein Leben rekapituliert, durch seine Erinnerungen schreitet und letztlich auch eine Art Läuterung erfahren durfte. Ein Film, den Woody Allen in späteren Jahren noch mehrfach abwandeln sollte... Die Reichweite von "Körkarlen" ist somit nicht zu unterschätzen.)
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