Secha pri Kerzhentse (1971)
Bei Liebhaber(inne)n des osteuropäischen Zeichentrickfilms steht Ivan Ivanov-Vano wegen seines Klassikers "Konyok-gorbunok" (1975, Das bucklige Pferdchen) hoch in der Gunst: eine Überarbeitung seines gleichnamigen Klassikers aus dem Jahr 1947, die im jungen Nachkriegsrussland maßgeblich war und auch im Ausland mit Bewunderung aufgenommen wurde. Die eigentliche Karriere als Regisseur abendfüllender Zeichentrickfilme fiel für Ivanov-Vano, der seit den späten 20er Jahren als Filmemacher arbeitete, in die 50er/60er Jahre. Titel wie "Snegurochka" (1952, The Snow Maiden), "Dvenadtsat mesyatsev" (1956, Die zwölf Monate), "Priklyucheniya Buratino" (1960, Die Abenteuer des Buratino) oder auch der späte, postum veröffentlichte "Skazka o tsare Saltane" (1984, Zar Saltan und die Wunderinsel) strebten jeweils Kinder- bzw. Familientauglichkeit an, griffen aber jeweils auf Klassiker der heimischen Folklore, Sagenwelt oder Literaturgeschichte zurück. Die auch für ein junges Publikum gedachte Zeichentrickunterhaltung Ivanov-Vanos fußte stets auf hochkultureller, traditionsbewusster Basis. Zu den Assistenten Ivanov-Vanos zählte unter anderem Yuriy Norshteyn: dessen "Yozhik v tumane" (1975, Hedgehog in the Fog) ist sicher einer der schönsten, empfindsamsten kurzen Zeichentrickfilme überhaupt, der in seiner poetischen und philosophischen Veranlagung für ein gereiftes Publikum überhaupt erst seine ganze Qualität offenbart; vor allem aber Norshteyns "Skazka skazok" (1979, Tale of Tales), eine essayistische, avantgardistische Meditation über russische Geschichte im Zeichentrickgewand, ist in die Geschichte und diverse Bestenlisten des Mediums eingegangen und richtet sich ausdrücklich an ein erwachsenes, durchaus auch an ein intellektuelles Publikum.
Im Jahr 1971 – spätestens in den Juni-/Juli-Monaten auf Festivals in Frankreich und der Tschechoslowakei, womöglich früher – gelangt die einzig gleichberechtigte Arbeit beider Zeichentrick-Künstler auf die Leinwand: "Secha pri Kerzhentse", frei nach der Oper "Skazániye o nevídimom gráde Kítezhe i déve Fevrónii" (1907, Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch und von der Jungfrau Fewronija) von Nikolai Rimsky-Korsakov, der auch das von Ivanov-Vano aufgegriffene Märchen um den Zaren Saltan mit einer (den berühmten Hummelflug enthaltenden) Oper bedachte und hier die Legende um die Stadt Kitsch heranzog.
Norshteyn und Ivanov-Vano setzen die im 13. Jahrhundert spielende Geschichte auf der Basis russischer Fresken und Ikonen des 14., 15. und 16. Jahrhunderts ins betont zweidimensionale Bild. Zur Musik Rimsky-Korsakov findet somit ein Streifzug durch russische Kunstgeschichte und Mythen statt, zu dem sich kaum westliche Pendants finden lassen. Und auch die Vermarktung dieses Zeichentrick-Kurzfilms, der – wie so viele Filmwerke aus der Sowjetunion – Avantgarde und Tradition auf erstaunliche Weise verquickt, fand im Westen bloß recht eingeschränkt statt. Dabei kommt man um dieses knapp zehnminütige Werk, wenn man das Medium des Zeichentrickfilms ernst nimmt, kaum umhin: zumindest die vergriffene Edition Masters of Russian Animation, Vol. 2 von Bravo & IFC Collection enthält den Kurzfilm, der darüber hinaus freilich auch online auf den bekanntesten Streaming-Portalen gut zu finden ist...
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