Auch im Jahr 2005 bewohnt die Familie Brocklebank immer noch ihr inzwischen im Verfall befindliches, einsam gelegenes Herrenhaus Longleigh. Der leicht zurückgebliebene, überbehütete Sohn James (Leo Bill) ist abhängig von der Kontrolle seines Vaters Donald (Roger Lloyd-Pack), ebenso wie die bettlägerige, todkranke Mutter Nancy (Kate Fahy), die auf seine Hilfe angewiesen ist. Als Donald nach London reist, um dort nach alternativen Heilungsmethoden für Nancy zu forschen, sind Mutter und Sohn sich selbst überlassen. Bald entwickelt James ein krankhaftes Verantwortungsbewusstsein für seine Mutter…
Heutzutage begegnet man nur noch selten Filmen, die sowohl den Status eines reinrassigen Autorenfilms als auch den eines Horrorfilms zu recht für sich beanspruchen. Das ein effizienter und suggestiver Horrorfilm beinahe zwingend eine handfeste, existentialistische menschliche Tragödie mit einschließt scheint man in diesen Tagen weitgehend aus den Augen verloren zu haben, sowohl in den Kreisen der Filmemacher als auch im Publikum. Herausragende Beispiele dieser einst populären, inzwischen aber beinahe ausgestorbenen Gattung waren zuletzt Lucky McKees „May“ (2002) oder Fabrice du Welz’ ambitionierter „Calvaire“ (Bezeichnenderweise sind beide in Deutschland nur auf DVD erschienen). Gerade in England scheint der Autorenfilm mit Affinität zum Genre-Kino aber noch eine beständige Heimat zu haben. 2001 schuf Andrew Parkinson mit „Dead Creatures“ den vielleicht ersten sozialkritischen Zombiefilm seit George A. Romeros „Day of the dead“ und in die gleiche Schiene schlug auch das Rache-Drama „Dead man’s shoes“ von Shane Meadows. Mit „The Living and the dead“ erscheint nun Simon Rumley auf der Bildfläche und beeindruckt mit dem starken Willen, Genre-Konventionen zu umgehen, erschwert den Zugang zu seinem Film aber sowohl durch seinen formalen Übereifer als auch durch seine unpopuläre Auslegung des Sujets Familiendrama.
Die harten, beinahe rhythmischen Übergänge zwischen überwiegend statischen, langen Einstellungen in deren Focus sich die die drei Protagonisten bewegen, und hysterischen, in Zeitraffer aufgenommenen Sequenzen, in denen James offenbar dem Irrsinn nahe durch die weit verzweigten Korridore des Herrenhauses hastet, um seine Medizin zu holen, ans permanent klingelnde Telefon zu gehen und – später – seiner Mutter ihre Tabletten zu bringen schaffen in der ersten und gelungenen Hälfte des stark komprimierten Films, dem weitere zwanzig Minuten Laufzeit nicht geschadet hätten, einen interessanten Kontrast – und in der zweiten das genaue Gegenteil. Man spürt das Rumley jedes seiner Stilmittel, jeder noch so große Exzess, der in den vergleichsweise gemäßigten Film einbricht, nur der grafischen Manifestierung der klassischen Familientragödie, die er erzählt, gilt. Dennoch scheint er seiner weniger originellen als vielmehr enorm wandlungsfähigen und optionsreichen Prämisse zu misstrauen und sich immer wieder um das Wohlbefinden des auf Schauwerte versessenen Zuschauers und den suggestiven Wert seines Films – der ob dieser Handlung ohnehin schon unanfechtbar sein sollte – zu sorgen was zu einem kaum massenkompatiblen, oft an überladene Debütfilme erinnernden Exzess führt, der zwar eine sichere stilistische Hand beweist, erzählerisch jedoch nur sehr unsicher voranschreitet. Heute scheinen unabhängige Filmemacher mehr denn je darauf angewiesen zu sein, eine bestimmte „Sparte“ zu wählen, an die sie sich richten. Und so fehlt ihren Werken beinahe zwangsläufig jene Ungezwungenheit mit der man einst, insbesondere in den 70ziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im Pool filmischer Referenzen, dramaturgischer Möglichkeiten und Genreversatzstücken umherpaddelte.
Die ebenso wahnsinnigen wie zahlreichen Möglichkeiten seines sehr persönlichen Drehbuchs setzte Andrzej Zulawski 1981 in seinem unübertroffenen Jahrhundertwerk „Possession“ mit einer Selbstverständlichkeit in exzessive, hypnotische Bilder um, die heute beinahe undenkbar erscheint. Rumleys Film geht eine solche Ungezwungenheit schon durch die artifizielle, distanzierte Haltung gegenüber der Geschichte die er erzählt, beinahe gänzlich ab, sein durchaus sehenswertes Werk ist ein einziger dekorativ-abstrakter, wohl aber auch äußerst humanitärer Manierismus. Der Regisseur ist stolz darauf, dieses Drehbuch entwickelt zu haben und weidet sich begeistert an dem expressiven Spiel seiner hervorragenden Darsteller und ihren absurden Handlungen, ihrer auswegslosen Verzweiflung an der eigenen, leeren Existenz und ihrer Reise in den Wahnsinn. Und da sich dieser stolze Exhibitionismus auf Narration und Drehbuch überträgt bringt er das chemische, bzw. emotionale Gleichgewicht des Films gefährlich ins Schwanken. Tatsächlich ist der löblicherweise lang gezogene erste Akt der am klassischen Drei-Akt-Schema orientierten und theatralisch präsentierten, Shakespearesken Tragödie meisterlich weil ausgesprochen besonnen in Szene gesetzt. Unbestechlich beobachtet Rumley das fragile familiäre Gerüst der Brocklebanks die trotz ihrer unleugbaren Solidarität untereinander in dem riesigen Herrenhaus aneinander vorbei leben und spart auch unangenehme, mehr oder minder alltägliche Situationen nicht aus wie etwa den Morgen nach Donalds Abreise an dem James seine Mutter – damit setzt Rumley auch einen ersten, unbequem unhandlichen Markstein auf dem Weg in die psychische Eskalation seiner Figuren – die er selbstverständlich nicht adäquat pflegen kann, in ihrem Bett inmitten ihrer eigenen Exkremente vorfindet da sie aus eigener Kraft die Toilette nicht erreichen konnte. In dem gewünschten Bad, das James ihr daraufhin einlässt, muss sie ebenfalls gefährlich lang und bis zum Rande der Erkältung verharren bis James wieder einfällt, wen er in der mit rostig braunem Wasser gefüllten Wanne zurückgelassen hat. Überhaupt begeistert gerade diese physische Unmittelbarkeit des Films – auch wenn die Kamera grobkörnige 16mm-Bilder von den kargen Innenräumen des Hauses mit bröckelnden Tapeten und Außenaufnahmen des wuchernden Gartens einfängt.
Das edle Ansinnen Rumleys wird einem als Zuschauer auch in dieser besagten, schwierigen Sequenz vor Augen geführt, die keinesfalls plakativ sondern lediglich enorm unangenehm wirkt. Die Risse in der aristokratischen Fassade der dreiköpfigen Familie klaffen weit und präzise, die dramaturgische Demonstration ihrer fehlgeleiteten Mechanik ebenfalls. Der zunehmend groteske Wahn, in dem James die selbst auferlegte Verantwortung für die Mutter – die dafür zuständige Krankenschwester sperrt er aus dem Haus aus – übernimmt und sich darum bemüht, ihr gerecht zu werden ist eine der interessantesten Konstanten des Films und Rumley weiß sie prächtig auszukosten. Von individueller Entscheidungsgewalt bzw. Selbstbestimmung, Freiheit, außerfamiliären sozialen Kontakten und ärztlicher Hilfe nahezu völlig ferngehalten, ist James das psychisch labile und geistig zurückgebliebene Opfer einer paradoxen Elternliebe die verhindert hat, das der Junior sich je an die übrige Menschheit und an weltliche Gesetze annähern konnte. Nun, da der Vater das Haus verlassen hat, erwacht in dem „guten Jungen“ ein sehr profaner und zugleich um Aufmerksamkeit winselnder Ehrgeiz, die Mutter selbst und ohne die Hilfe einer zweiten Person zu umsorgen. Doch die notwendigen Handlungen hat er selbst nach Jahren noch nicht verinnerlicht und füttert seine Mutter gewaltsam mit Unmengen von Pillen, die er selbst allmorgendlich in willkürlichen Überdose einnimmt – eine der erschütterndsten Metaphern für seine seelische Verwahrlosung und die trotz aller Liebe mangelnde Aufmerksamkeit seiner Eltern. „The more you take, the better you feel, Mum!“. Die Pervertierung familiärer Liebe haben seine Eltern James also formvollendet mit auf den Weg gegeben. Ebenso wenig wie sie ist auch er in der Lage, seine Emotionen und seines Liebesbekundungen zu artikulieren und überantwortet sie seiner Umwelt – und damit in diesem Fall seiner Mutter – ungelenk und in gefährlich hoher Konzentration. Leo Bill grimassiert als James derart wild das man beinahe vergisst dass das hier geschilderte Krankheitsbild ein durchaus realistisches ist – wenn es auch von den technischen Spielereien, denen Rumley in der zweiten Halbzeit zunehmend erliegt, bizarr überhöht wird.
Man könnte angesichts der verschachtelten, wild mit verschiedenen Zeit – und vor allem Realitätsebenen hantierenden Erzählstruktur noch Seiten schreiben doch das ist hier nicht erforderlich. „The Living and the dead“ findet im Finale dankenswerterweise wieder zu sich zurück und verzichtet auf das Schlagen allzu prätentiöser narrativer Haken sondern kennzeichnet dieses seit Filmen wie „Memento“ oder „Ringu“ schon zur Konvention des modernen Genre-Kinos verkommene Verwirrspiel nur als Stilmittel um den fiebrigen Schwebezustand der Protagonisten nachvollziehbarer zu gestalten. Die grundsätzliche Schwierigkeit von „The Living and the dead“ ist die inszenatorische Unsicherheit seines an und für sich zielstrebigen Regisseurs der den Effekt seines Drehbuchs auf der Leinwand offenbar nicht abschätzen konnte. Seine Orientierung am altbewährten Schema „Klotzen, nicht kleckern“ ist dem Gesamteindruck seines Films eher abträglich. Denn die enorm suggestiven und reflektierten frühen Minuten sind zugleich auch die stärksten Momente des Films in denen man die tatsächliche Reife seines Schöpfers spürt. Hier werden formale und technische Exzesse in Bild und Ton noch effektvoll und sparsam eingestreut – während die überwiegend gleichen Effekte im übrigen Film langsam aber sicher zur Farce geraten und sowohl ihre Wirkung als auch ihre Notwendigkeit verlieren. Denn plötzlich sehnt sich der Zuschauer die beobachtende, sensibel in langen Einstellungen verharrende Kamera die zu Beginn noch überwog, zurück – denn wenn man eine solche Geschichte schon als Cyberpunk-Film umsetzen möchte – was sicherlich zu einem interessanten Filmkunstwerk führen könnte - sollte man das auch konsequent tun. Auch wenn ich der letzte bin, der einem Film eigenwillige ästhetische und narrative Gratwanderungen übel nehmen würde – „The Living and the dead“ ist der seltene Fall eines wortwörtlich zerrissenen Films, in dem die beiden fundamentalen Bausteine nicht aufeinander passen wollen. Warum also sieben Punkte? Der Zement, der diese Steine zusammenhält ist tatsächlich eine beachtliche Klasse für sich und überaus sehenswert. Wer sich allerdings nach den einleitenden dreißig Minuten Hoffnungen auf eine Fortführung der dort begonnenen, viel versprechenden Linie macht, sollte diese nach Möglichkeit aufgeben um etwaige Enttäuschungen zu vermeiden.