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In „Okasan“ greift Mikio Naruse - ebenso wie in seinem frühen Tonfilm „Drei Schwestern mit reinem Herzen“ (1935) – das Thema „Frauen, die sich alleine in der japanischen Gesellschaft behaupten müssen“ auf. Während besagtes Frühwerk als melancholisches Frauendrama offensiv die Tragik seiner Geschichte und der Wandlung seiner Protagonistinnen zur Schau trug, überträgt Naruse den eisernen Überlebenswillen und die trotz schwerster Schicksalsschläge mit aufrechtem Kopf zum Ausdruck gebrachte Kampflustigkeit seiner „Heldin“ gegenüber den Fallen einer ärmlichen Existenz auf die Dramaturgie seines Drehbuchs und die hier eher konventionelle Inszenierung.

Diese Heldin ist Masako Fukuhura (Kinuyo Tanaka), die Mutter (jap. „Okasan“) die sich unerwartet mit einer wenig aussichtsreichen Perspektive konfrontiert sieht. Nach dem Tod ihres ältesten Sohnes Susumu (Akihiko Katayama) und dem kurz darauf folgenden ihres Mannes, der von Überarbeitung gezeichnet nach lang verheimlichter Krankheit unter ihren Händen stirbt, ist sie, Mutter der kleinen Chanko und der älteren Schwester Toshiko (Kyôko Kagawa)und Pflegemutter ihres Neffen Tetsu, mehr oder minder auf sich alleine gestellt. Toshiko erwirtschaftet mit einer kleinen Imbiss-Bude zwar einige Yen doch der eigentliche Hauptverdienst der Familie, die kleine hauseigene Wäscherei, wächst Masako schon bald über den Kopf, trotz der Hilfe von Herrn Kimura (Daisuke Katô), einem ehemaligen Lehrling ihres Gatten.

Keines dieser zahlreichen Unglücke entlockt ihr mehr als nur eine kleine, unauffällig verdrückte Träne. Zumindest blendet Naruse jedwede emotionalen Ausbrüche kontinuierlich aus. Als passiver Zuschauer ist man genötigt, das deprimierende Schicksal der Familie klaglos zu akzeptieren. Zähne zusammenbeißen und auf in den Kampf – so wie Masako immer wieder aufsteht und auch ihre Kinder stärkt, müsste so ihr Schlachtruf lauten.
Allerdings macht es Naruse seinem Publikum in „Okasan“ auch deutlich leichter in manch anderem seiner Filme und schreitet die Wendeltreppe der menschlichen Tragödie bedächtig und ohne Schwarzmalerei hinab. Die Melancholie wird stellenweise in schon beinahe irritierender Weise von komischen und süßlichen Momenten durchbrochen wie etwa der Romanze zwischen Toshiko und einem jungen Bäcker der als Mädchenschwarm im ganzen Viertel bekannt ist. Die Einleitung, in der Toshiko ihre Familie vorstellt, gibt diesen augenzwinkernden Ton vor – der im ersten Augenblick so gar zu dieser betrüblichen Geschichte passen möchte.
Das Naruse eben dieser Humor dazu dient, das Leiden der Figuren besser nachzuvollziehen, wird erst im weiteren Verlauf deutlich. Wie so viele vom Leben geschlagene Menschen steigern sich auch die Fukuhuras in jeden noch so kleinen Moment des Glücks beinahe manisch hinein, kosten ihn voll aus – in dem Wissen, das diese Momente meist nur kurz andauern, so kurz wie die gelegentlichen Besuche von Tante Noriko, der Mutter von Tetsu, die sich zwischen ihrer harten Ausbildung zur Friseuse einige Stunden Zeit für die Kinder nimmt und sie ausführt.

So banal die Geschichte, die das Drehbuch vordergründig erzählt, auch ist – wichtiger - weil letztlich präsenter - als Herzschmerz und oberflächliche Spannung ist Naruse der Kontext, in welchen er seine von Kinuyo Tanaka überragend gespielte Protagonistin Masako und ihr Schicksal stellt.
Die Schwierigkeiten, die sie bewältigen muss, sind sowohl ein Produkt der Arbeiterschicht, die ihre weiblichen Mitglieder zu häuslichen Faktoten erzogen hat, als auch auf den unausweichlichen persönlichen Konflikt zurückzuführen, in dem Masako sich befindet.

Sie liebt ihre Kinder, ebenso wie Tetsu und fühlt sich ihnen mehr als allem anderen verpflichtet, will eine gute Mutter sein was sich scheinbar nicht damit vereinbaren lässt, Hals über Kopf in den existentiellen Kampf zu ziehen. Sie möchte Toshiko eine schulische Ausbildung ermöglichen, ist aber andererseits auch auf ihre Hilfe angewiesen, ebenso wie sie Chanko bei sich behalten und dem Mädchen die schmerzliche Trennung vom Elternhaus ersparen, ihr aber durch die Freigabe zur Adoption zu einem besseren Leben verhelfen möchte.

„Frauen können ohne Männer wohl nicht glücklich sein.“ Diese Bemerkung von Toshikos Freund mit der er sich auch explizit auf Masakos Situation bezieht stellt zugleich im Ansatz die vielleicht wichtigste These des Film dar. Die ungeheure Abhängigkeit der Frau vom Mann in einer Welt und Gesellschaftsschicht wie der von Masako und ihrer Familie ist die eigentliche Hürde der beiden zentralen weiblichen Figuren in „Okasan“. Masako hat nie etwas Handwerkliches erlernt, kann nur „typisch weiblichen“ Tätigkeiten wie Nähen, Sticken und Kochen nachgehen. Toshiko ist noch von den Werten der älteren Generation geprägt und quasi vorbelastet.

Diesen beiden, in das konservative Geschlechtermuster gepressten Frauen stellt Naruse Noriko, die jüngere Schwester Masakos, gegenüber. Sie lebt „frei“ – finanziell unabhängig – hat aber aufgrund der harten Ausbildung und Arbeitszeiten keine Zeit für ihren Sohn und sich selbst. Der Gewinn des einen ist der Verlust des anderen und umgekehrt.

Das dieses ungeschriebene Gesetz für Frauen innerhalb der damaligen japanischen Gesellschaft in einem weitaus höheren Maße halt ist Naruses wesentlicher Kritikpunkt. Eine Frau ist niemand ohne Mann, sie muss ihre Kinder ohne staatliche Unterstützung oder die Erleichterung einer Lebensversicherung ihres Gatten ernähren und eigentlich gezwungen, erneut zu heiraten um sich aus der Misere zu retten, bzw. anderweitig nach männlicher Hilfe Ausschau zu halten die sie von Herrn Kimura erhält.

Trotz der omnipräsenten Trost- und Hoffnungslosigkeit ist „Okasan“ kein deprimierender Film. Dafür ist er zu „ledern“, zu willensstark. Beendet wird er von Naruse mit einer Art Happy end das bestmöglich an den klammernden, sturen Grundton des übrigen Films anknüpft: Nach einer kleinen Krise im Geschäft und dem Abschied von Kimura sieht Masako Toshiko mit einer Mischung von Erleichterung, Erschöpfung und leiser Sorge an: „Komm, wir müssen weitermachen“.
Mit diesem Satz endet der Film und obwohl er andeutet, das alles weitergehen wird wie gehabt – sieht man von den rosigen Aussichten Toshikos auf eine Heirat mit ihrem Freund ab – enthält er doch ein Fünkchen von Optimismus. Wir haben es bisher immer irgendwie geschafft, also werden wir es auch in Zukunft schaffen!

Die einfache Moral „von der Geschichte“ ist somit ein herzlicher, aber auch unbequem formulierter Appell, selbst in aussichtslosen Lebenslagen niemals aufzugeben und sich jeder Herausforderung – mag sie auch noch so utopisch erscheinen – zu stellen. Dieser Appell richtet sich hierbei wie inzwischen offensichtlich sein dürfte, insbesondere an japanische Frauen. Ein Aufruf zur Emanzipation? Vielleicht. Doch vor allem hat es den Anschein, als habe hier ein Filmemacher seinem Ärger über ein unfertiges soziales System Luft gemacht und seine Figuren dabei in eine Umgebung geschickt, die bei zahlreichen Zuschauern eine gewisse Distanz zum Geschehen schafft die wiederum hilfreich sein dürfte bei dem Versuch, die Absicht Naruses nachzuvollziehen.

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