Review

Die "neue deutsche Welle" schwemmte zuletzt einige cineastische Perlen an Land. Das Inszenatorische wirkt professioneller, Drehbücher sind ausgefeilter und die Themen werden fernab von Haiattacken und Saufgelagen auf bzw. in Mallorca gewählt.
Mit „Kammerflimmern“ darf man letztendlich ein weiteres Kapitel hinzufügen.

Regisseur und Drehbuchautor Hendrik Hölzemann lehnt sich augenscheinlich an Martin Scorseses "Bringing out the Dead" an. Crash (Matthias Schweighöfer) ist Rettungssanitäter. Sein Spitzname ist nicht nur eine metaphorische Beschreibung seines Innenlebens - zu Beginn des Films sehen wir wie seine Eltern eben bei einem Crash mit dem Auto tödlich verunglücken.
Der Protagonist ist ein seelisches Wrack. Das traumatische Erlebnis durch den Tod seiner Eltern hängt ihm immer noch nach. Täglich ist er als Rettungsassistent mit dem Leid der Menschen konfrontiert. Sein Fluchtort aus der bitteren Realität sind Träume, die immer ein gewisses Schema visualisieren - eine brünette Frau ist fester Bestandteil. Eines Tages lernt der Rettungssanitäter bei einem Einsatz November (Jessica Schwarz) kennen – sie ist die Frau, die ihm täglich im Traum begegnet.

Obwohl man Ähnlichkeiten zu "Bringing out the Dead" nicht abstreiten kann, umgeht Hölzemann eine plumpe Kopie. Der Regisseur und Drehbuchautor wählt einen eigenen Erzählstil, der mitunter gewöhnungsbedürftig ist. Hölzemann verknüpft Surreales mit realen Geschehnissen und unterbricht des Öfteren den Erzählfluss. Abrupte Schnitte und Zeitsprünge lassen das Ganze nicht immer „rund“ wirken. Das Problem liegt dabei nicht an der Art des Erzählens, sondern an der Umsetzung. Hier spiegelt sich die geringe Erfahrung des Regisseurs, der bisher nur Kurzfilme drehte, wider. Es fehlt oftmals das Timing bei Schnitten. In punkto Kameraführung wirken manche Schwenks und Einstellungen wirr bzw. unpassend und teilweise sind Aufnahmen verwackelt.

Trotz aller inszenatorischen Makel, kann „Kammerflimmern“ inhaltliche Finessen aufweisen. Bei dem Selbstfindungstrip des Protagonisten werden sämtliche Fettnäpfchen im kitschigen, klischeehaften und sentimentalen Bereich vermieden. Die Emotionen bleiben trotzdem oder gerade deshalb nicht auf der Strecke. Der Unterschied zum Standard ist die Unberechenbarkeit und das Feingefühl, wodurch ein gewisses Maß an Realität zum Ausdruck kommt. Die Story verläuft nicht nach altern Mustern, kann oftmals sogar sehr überraschen. Hölzemann stellt die Macht von Träumen und den Glauben an die Realisierung in den Mittelpunkt. Der Protagonist durchläuft einen Prozess, um seine geschundene Seele zu heilen. Träume stärken Menschen und geben ihnen einen Halt, aber letztendlich darf man nicht vor der Realität flüchten und den Glauben an sich selbst verlieren. Der Weg ist hart, aber wir leben in der Gewissheit, dass immer jemand existiert, wie die brünette Frau in den Träumen des Protagonisten. Crash hat sie gefunden, aber das Leben wird deshalb kein Selbstläufer!

Einen großen Beitrag zum Thema Glaubwürdigkeit leisten beide Protagonisten. Matthias Schweighöfer strahlt die anfängliche Verzweiflung förmlich aus und reißt den Betrachter in die Achterbahnfahrt der Gefühle mit rein. Jessica Schwarz ist aber dennoch die treibende und emotionale Kraft, die alle Eigenschaften vereint, um den Zuseher in den Bann zu ziehen. Sie beweist, dass das emotionale Zentrum auch ohne übertriebene Sentimentalitäten und Klischees, mit Ecken und Kanten, erreicht werden kann. Ihre Art ist ehrlich, direkt und trotzdem liebenswert und feinfühlig.

Rückführend zur "neuen deutschen Welle", darf sich „Kammerflimmern“ zweifelsohne in die Reihe der gelungenen, hiesigen Produktionen einreihen. Regisseur und Drehbuchautor Hendrik Hölzemann kann die inszenatorischen Schwächen mit den inhaltlichen Finessen des Selbstfindungstrips weitgehend kaschieren. „Kammerflimmern“ ist mitreißend, überraschend und irgendwie auch ebenso beruhigend wie ehrlich, denn nicht nur in Träumen existiert Crashs Traumfrau – dennoch bleibt ihm die Härte des Lebens nicht erspart. Nutze die Macht der Träume, aber fliehe nicht vor dem Leben! (6,5/10)

Diese Kritik ist auch bei www.filmbesprechungen.de erschienen.

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